„Tötet Liebknecht“ – „Schlagt Rosa Luxemburg tot!“,
prangt es im Januar 1919 auf unzähligen Plakaten in der Berliner Innenstadt.
Nachdem Deutschland seit November von revolutionären Wellen geschüttelt war,
setzen die Bürokraten der SPD in Zusammenarbeit mit den Handlangern des alten
Regimes alles daran, der Revolution in den Januarkämpfen den Kopf abzuschlagen.
Am Abend des 15. Januar werden Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht verhaftet. Am nächsten Tag hieß es in der Presse, Liebknecht sei auf
der Flucht erschossen und Luxemburg von einer Menge Unbekannter gelyncht
worden. Das war eine Lüge. Schon im Hotel Eden wurde unter General Pabst der
Mord von Liebknecht und Luxemburg geplant. Gustav Noske ließ nach ihrer
Festnahme sehr deutlich durchblicken, dass er gegen ihre Ermordung nichts
einzuwenden hatte. Liebknecht wird in den Tiergarten gefahren und erschossen,
Rosa Luxemburg niedergeschlagen, erschossen und in den Landwehrkanal geworfen.
Diese Ereignisse öffnen Tür und Tor für die Gewaltexzesse der Konterrevolution.
In der kommenden Zeit werden Tausende revolutionäre Arbeiter ermordet oder
inhaftiert. Die Stimme der Revolution wird
– zumindest vorerst – von der Führung der deutschen Sozialdemokratie im
Blut ertränkt.
Luxemburg als Pazifistin?
Der Tod dieser Tausenden ist eine bittere Warnung an
alle, die glauben, die Beendigung der Herrschaft der Klasse der Kapitalisten
sei allein auf dem Weg der friedlichen Reform möglich; die dem Irrglauben
verfallen sind, die Herrschenden in unserer „demokratischen“ Gesellschaft
würden nicht sofort zur Waffe greifen, sähen sie sich von einer Revolution
bedroht.
Anders, als es einige bürgerliche Kommentatoren
gerne darstellen, hat Rosa Luxemburg einem solchen Irrglauben nie nachgehangen.
Als revolutionäre Marxistin war sie der festen Überzeugung, dass es ein Ende
von sozialer Ausbeutung und Krieg nur mit der Überwindung des Kapitalismus
geben könnte. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung – so Luxemburgs Ansicht –
hält nur Krieg und „bewaffneten Frieden“ für die Unterdrückten dieser Welt
bereit.[1]
Spontanität, Partei und Masse
„Die
Entschlossenheit, mit der Lenin und Genossen im entscheidenden Moment die
einzige vorwärtstreibende Losung ausgegeben haben: die ganze Macht in die Hände
des Proletariats und der Bauern, hat sie fast über Nacht aus einer verfolgten,
verleumdeten Minderheit [...] zur absoluten Herrin der Situation gemacht.
Die
Bolschewiki haben auch sofort als Zweck dieser Machtergreifung das ganze und
weitgehendste revolutionäre Programm aufgestellt: nicht etwa Sicherung der
bürgerlichen Demokratie, sondern Diktatur des Proletariats zum Zwecke der
Verwirklichung des Sozialismus.“[2]
Heute ist über Rosa Luxemburg bekannt, dass es
zwischen ihr und Lenin eine Reihe von Differenzen über Fragen des Marxismus wie
der Agrarfrage, der nationalen Frage, den kapitalistischen Krisen, der
Entwicklung von Bewusstsein und dem Parteiaufbau gegeben hat.
Gerade die Frage der Organisation einer revolutionären
Partei sollte in der deutschen Revolution eine entscheidende Rolle spielen.
Lenin vertrat ein Parteikonzept einer sehr aktiven führenden Rolle der
sozialdemokratischen (später kommunistischen) Partei in den Kämpfen der
Arbeiterklasse.[3]
Ohne sie – diese Meinung vertrat Lenin im Jahr 1902 – könne die Arbeiterklasse
nur ein „gewerkschaftliches“ Bewusstsein entwickeln. Diese Betonung auf die
Bedeutung der sozialistischen Avantgardepartei revidierte Lenin nie in ihrer
Gänze, schwächte sie aber 1903 und 1905 ab, wobei er die Selbsttätigkeit der
Arbeiterklasse in der Revolution stärker würdigte, aber nie die Bedeutung der Führungsrolle
der Partei in der Revolution infrage stellte.[4]
Wenn Rosa Luxemburg die Rolle der Partei auch nie in
einer Form hinterfragte, wie es ihr später in den Mund gelegt wurde, so legte
sie in Schriften wie „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft“ doch eine deutlich
stärkere Betonung auf die spontane Entwicklung des Bewusstseins, als Lenin das
tat.[5]
„Einheit oder Spaltung der Partei“: Die deutsche SPD
Welchen Charakter hatte die deutsche SPD in den
Jahren 1918/19? Die deutsche Sozialdemokratie zählte schon im Jahr 1914
deutlich über eine Million Mitglieder[6] und war tief in der
Arbeiterschaft verwurzelt. Unter einer Reihe deutscher Sozialisten herrschte
deshalb die Vorstellung, die
Partei sein nicht Führung der Klasse, sondern „Bewegung der Klasse“ selbst,[7]
von der man sich nicht isolieren wollte.
Das verleitete auch revolutionäre Sozialisten wie
Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg dazu, die Gefahr des Reformismus zu unterschätzen[8]
und sich nicht
mithilfe einer straffen Tendenz der reformistischen Parteiführung
entgegenzustellen. Als die SPD-Führung durch ihre Zustimmung zu den
Kriegskrediten die Sache der Arbeiterklasse schändlich verriet, blieb die
Parteilinke desorientiert und
auf einen kleinen Nukleus zusammengeschrumpft zurück, und hinkte fortan den
Ereignissen immer einen Schritt hinterher. Andere, wie Karl Radek, hatten sich
offener für eine Spaltung der Partei ausgesprochen, konnten sich mit ihrer
Position aber nicht durchsetzen.[9]
Einmal wurde die Parteilinke in den
Reihen der SPD von der Kaltschnäuzigkeit der reformistischen Bürokratie
überrollt, und später geschah ihr dasselbe in den Reihen der USPD. Es gehört zu den bitteren Lehren
der Novemberrevolution, dass versäumte Arbeit im Parteiaufbau im Angesicht
einer revolutionären Situation nicht einfach „wegimprovisiert“ werden kann. Als die revolutionäre Situation nun kam,
standen vor der Masse der Arbeiterklasse ihre alte SPD und eine Reihe von
Arbeiterführern, die sich eben erst von ihr losgesagt hatten. Doch in der nun
angeschlagenen Geschwindigkeit konnten ihre Differenzen von der Breite der arbeitenden
Bevölkerung nicht nachvollzogen werden. Und so waren die Kräfte, die in den
Jahren 1918/19 für eine sozialistische Räteherrschaft eintraten, ein ums andere
Mal unterlegen.
Erst deutlich verspätet entschieden sich die
Spartakisten zur Gründung der Kommunistischen Partei an der Seite anderer
radikal-linker Kräfte. Doch die KPD war nicht in der Lage, bis Anfang des
Jahres 1919 in der Breite der deutschen Arbeiterklasse Wurzeln zu schlagen und
das Vertrauen der Massen für sich zu gewinnen. Und so waren die Kräfte, die in
den Jahren 1918/19 für eine sozialistische Räteherrschaft eintraten, ein ums
andere Mal gegenüber der Konterrevolution unterlegen.
Was die deutsche Revolution und ihren bitteren Ausgang
angeht, so hat Lenin mit seinem Parteikonzept Recht behalten. Rosa Luxemburg
und tausende andere haben hart gekämpft, und die Geschichte war nicht gnädig zu
ihnen. Fehler, die ihnen im Kampf unterlaufen waren, haben sie mit ihrem Leben
bezahlt. Viele der Auseinandersetzungen von damals mögen heute wie historische
Spitzfindigkeiten erscheinen, wurden aber in diesem – und in vielen anderen
Kämpfen der Arbeiterklasse – beinharte Realität. Auf eine halbe Revolution
folgte eine ganze Konterrevolution. Das Leben und Sterben der Rosa Luxemburg
sind dafür der beste Beweis.
Rosa Luxemburgs Vorstellungen vom Aufbau der
sozialistischen Partei waren abstrakter, abwartender als die von Lenin – und
dieser Mangel sollte von ihr teuer bezahlt werden. Und gleichzeitig zog sie am
11. Januar 1919 – sehr kurz vor ihrem Tod – in der „Roten Fahne“ die Lehre aus
den Niederlagen der Kommunisten in der deutschen Revolution:
„Der bisherige
Zustand der mangelnden Führung, des fehlenden Organisationszentrums der
Berliner Arbeiterschaft ist unhaltbar geworden. Soll die Sache der Revolution
vorwärts gehen, soll der Sieg des Proletariats, soll der Sozialismus mehr als
ein Traum bleiben, dann muß sich die revolutionäre Arbeiterschaft führende
Organe schaffen, die auf der Höhe sind, die die Kampfenergie der Massen zu
leiten und zu nutzen verstehen. […] Klarheit, schärfster, rücksichtsloser Kampf
allen Vertuschungs-, Vermittlungs-, Versumpfungsversuchen gegenüber,
Zusammenballung der revolutionären Energie der Massen und Schaffung
entsprechender Organe zu ihrer Führung im Kampfe – das sind die brennendsten
Aufgaben der nächsten Periode, das sind die bedeutsamen Lehren aus den letzten
fünf Tagen wuchtigster Anläufe der Massen und kläglichsten Versagens der
Führer.“[10]
Das Scheitern der deutschen Revolution
hatte massive Folgen für das Weltgeschehen. Die Revolution in Sowjetrussland
blieb isoliert, und so hatte auch das Scheitern der deutschen Revolution seinen
Einfluss darauf, dass sie abebbte und schließlich der Widerstand gegen den
Stalinismus wie auch der Versuch der Weltrevolution Anfang des 20. Jahrhunderts
in einer Niederlage endete. Aber gerade in Zeiten, in denen die soziale
Ungleichheit auf der ganzen Welt so scharf zu Tage tritt wie nie zuvor, kann
man mit größter Sicherheit sagen, dass im Kampf zwischen Revolution und
Konterrevolution auch in Deutschland noch nicht das letzte Wort gesprochen
wurde. Es ist unsere Aufgabe, aus den Erfahrungen der Geschichte zu lernen und
nicht nur die besseren Analysen zu schreiben, nicht nur zu reden sondern im
Hier und Heute zu handeln und den Aufbau neuer, sozialistischer Kräfte der
Arbeiterklasse voranzutreiben.
[1] Rosa
Luxemburg, „Friedensutopien“, 1911
[2] Rosa
Luxemburg, „Zur Russischen Revolution“, 1918. Das Zitat entstammt derselben
Quelle wie der oft zitierte Satz von Luxemburg zur „Freiheit der
Andersdenkenden“, mit dem versucht wird, ihr Bild zu dem einer bürgerlichen
Demokratin zu verzerren.
[3] W.I. Lenin, „Was
tun“, 1902.
[4] „Wir
wollen nun mit einem Ratschlag schließen, den wir den Neuiskristen noch des
öfteren werden geben müssen: Würdigt die Aufgaben der Avantgarde der Revolution
nicht herab, vergeßt nicht unsere Pflicht, diese Avantgarde durch unsere organisierte Selbsttätigkeit zu unterstützen.
Macht weniger allgemeine Phrasen über die Entwicklung der Selbsttätigkeit der
Arbeiter – die Arbeiter legen, von euch unbemerkt, eine gewaltige revolutionäre
Selbsttätigkeit an den Tag! – achtet mehr darauf, daß ihr die unentwickelten
Arbeiter durch eure eigene Nachtrabpolitik nicht demoralisiert.“ „Zwei
Taktiken“
Zur ganzen Debatte siehe https://offensiv-marxisten.blogspot.com/p/marxistische-streitigkeiten-lenin-und.html
[5] Ein
„sozialistisches Bewusstsein“, das sich spontan aus der Arbeiterklasse heraus
entwickelte, erwartete auch Rosa Luxemburg nie.
[6] Broué,
„The German Revolution“, 1971, S. 14; im Vergleich: die Mitgliedschaft der
russischen Sozialdemokratie (Bolschewiki) wuchs erst im Jahr 1917 auf 240.000
Mitglieder an
[7] Vgl. Rosa
Luxemburg: „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“
[8] Karl
Radek schreibt zur Rolle des Reformismus in einer Arbeiterpartei, die
verschiedenen Klasseneinflüssen ausgesetzt ist (von ihm auch
„Kuddelmuddelarbeiterpartei“ genannt): „Wie wirkt das auf die
Arbeiterbewegung ein? Die
Arbeitermasse, die noch nicht sozialistisch ist, wird in ihrer Entwicklung zum
Sozialismus aufgehalten. [...]Statt also die Entwicklung der ganzen Masse zum Sozialismus zu
beschleunigen, halten sie dieselbe auf.“
[9] Karl
Radek, „Bemerkungen zur Frage der Einheit der Arbeiterklasse“, 1909. Karl
Radek, „Einheit oder Spaltung der Partei“, 1916.
[10] Rosa Luxemburg: Das Versagen der Führer, „Die Rote Fahne“, 11. Januar 1919.