Welche Rolle spielt der deutsche Imperialismus?
Vincent Schwarz, Marxistische Organisation Offensiv
Die vergangenen 30 Jahre haben Alle, die
nach der Auflösung der Sowjetunion das „Ende der Geschichte“ gekommen sahen,
Lügen gestraft. Die Welt hat sich seitdem nicht stetig in Richtung Frieden, Demokratie und Wohlstand für Alle entwickelt, im
Gegenteil! Es gibt weiterhin Armut, Stellvertreterkriege und in den letzten
Jahren auch verstärkt direkte Konflikte zwischen den imperialistischen
Großmächten (NATO-Russland, USA-China). Das ist keine Überraschung, denn mit
dem Fall des Ostblocks hat das System vorerst „gewonnen“, in dessen
Funktionsweise Konflikte und Kriege unvermeidlich begründet sind: der
Imperialismus.
Was ist Imperialismus?
Der Imperialismus ist der Kapitalismus in
seinem monopolistischen Stadium, das er Ende des 19. Jahrhunderts erreicht hat.
Er zeichnet sich durch die Konzentration der Produktion in wenigen
Großbetrieben bzw. Konzernen aus, die ihre kleineren Konkurrenten aus dem Markt
drängen oder aufkaufen und zu marktbeherrschenden Monopolen oder
Quasi-Monopolen in Form von Kartellen anwachsen. Gleichzeitig ist ein großer
Teil des Bankkapitals in wenigen Großbanken konzentriert, die über Kredite aufs
engste mit den Konzernen verbunden sind und durch die gegenseitige Abhängigkeit
praktisch mit diesen verschmelzen. Die Monopole aus Bank- und Industriekapital
beherrschen einen so großen Teil der Wirtschaft eines Landes, dass ihre
Interessen unweigerlich zu den Interessen des Staates werden, in dem sie
angesiedelt sind.
Regierungen in imperialistischen Ländern
haben in erster Linie die Funktion, die Interessen der „eigenen“
Monopolverbände durchzusetzen, die in Konkurrenz mit ausländischen
Monopolverbänden stehen: Zugang zu Märkten und Rohstoffen sowie möglichst
vorteilhafte Bedingungen, um auch ausländische Märkte beherrschen zu können.
Aus der Konkurrenz unter den imperialistischen Mächten ergibt sich für jede von
ihnen der Zwang, sich andere Länder zu unterwerfen, bevor es die Konkurrenz
tut. Das geht auf militärischem oder auf ökonomischem Wege. Die direkte
Eingliederung in das eigene politische System (Annexionen, Kolonien) gibt es
heute kaum noch. Die Zielländer werden entweder durch Kapitalexport in
ökonomische Abhängigkeit gebracht oder per Regime Change (besonders gern durch
die USA) den eigenen Interessen geöffnet, wobei sie formal souverän bleiben.
Aktuelle Weltlage
Dass bereits die ganze Welt von (häufig
ausländischem) Kapital durchdrungen und beherrscht ist, heißt nicht, dass die
Aufteilung der Welt damit ein für alle Mal abgeschlossen ist. Sie kann und muss
neu verteilt werden, wenn sich die Kräfteverhältnisse zwischen den
imperialistischen Mächten ändern, was zwangsläufig zu Konflikten zwischen
diesen führt. Genau das erleben wir aktuell mit dem Aufstieg Chinas und dem
Versuch der USA, diesen aufzuhalten. China hat die größte Bevölkerung und nach
den USA die zweitgrößte Volkswirtschaft sowie den zweitgrößten Militärhaushalt
der Welt. Der Abstand zu den USA ist noch beträchtlich, verringert sich aber
Jahr für Jahr. Mit der „Neuen Seidenstraße“ beginnt China im großen Stil
Abhängigkeiten in Asien und Afrika zu schaffen und drängt selbst nach Europa.
Es ist erklärtes Ziel der Regierung, Mitte des Jahrhunderts Weltmacht Nr. 1 zu
sein. Die jüngste Antwort der USA war der von Trump ausgerufene Handelskrieg. Es
wird nicht die letzte gewesen sein. Anders als die USA und China bezieht
Russland seinen Status als Weltmacht in viel höherem Maße aus seinen
militärischen Kapazitäten (konventionelle und vor allem Atomwaffen in großer
Zahl) als aus ökonomischer Stärke (nur Platz 12, hinter Kanada).
Rolle Deutschlands
Welche Rolle spielt Deutschland im
imperialistischen Weltsystem? In den deutschen Medien wird der „eigene“
internationale Einfluss (im Gegensatz zu anderen imperialistischen Mächten)
eher geringer dargestellt als er tatsächlich ist. Das hat einerseits damit zu
tun, dass in der deutschen Bevölkerung Nationalismus und Imperialismus (aus
guten Gründen) nach wie vor auf weniger Zustimmung stoßen als in anderen
Ländern. Andererseits ist es auch ein Propagandamittel, um die Forderung nach
mehr eigenem Einfluss populär zu machen. Fakt ist: die Darstellung ist
verzerrt. Deutschland hat großen Einfluss, auch wenn er weniger offen sichtbar
ist, weil er vor allem ökonomisch statt militärisch ausgeübt wird.
Die deutsche Wirtschaft ist die viertgrößte
der Welt und außergewöhnlich stark exportorientiert. Sie exportiert aktuell
Waren im Wert von über 1,3 Billionen Euro pro Jahr (Platz 3 hinter China und
den USA), die wichtigste Branche ist dabei die Autoindustrie, dahinter
Maschinen und chemische Industrie. Der Exportüberschuss liegt seit 2014
deutlich über 200 Mrd. Euro pro Jahr (Platz 2 hinter China), ihm steht ein
ebenso hoher Kapitalexportüberschuss gegenüber. Insgesamt sind über 8 Billionen
Euro deutsches Kapital im Ausland angelegt. Da die deutsche Wirtschaft
wesentlich stärker international verflochten ist als die japanische, muss
Deutschland ökonomisch der drittgrößte Einfluss aller Staaten zugeschrieben
werden. Dieser konzentriert sich vorrangig in Europa und besonders innerhalb
der EU, in der (auch nach dem Brexit) über die Hälfte des deutschen
Außenhandels erfolgt.
EU – neoliberal, undemokratisch,
militaristisch
Die EU ist in doppelter Hinsicht das
politische Schlüsselinstrument des deutschen Imperialismus. Erstens nach innen,
durch den gemeinsamen Binnenmarkt und die gemeinsame Währung, die alle
Schutzmechanismen gegen ausländische (vor allem deutsche) Exporte für weniger
entwickelte Volkswirtschaften außer Kraft gesetzt haben. Hinzu kommt die
massive finanzielle Abhängigkeit der „Krisenländer“ durch die hohe Verschuldung
und die (maßgeblich von Deutschland getragenen) „Rettungsmaßnahmen“. Die
Wirtschafts- und Sozialpolitik aller Euroländer ist heute faktisch von
EU-Regeln diktiert, die sehr wenig Spielraum für Abweichungen von der
Austeritätspolitik lassen, die Deutschland durchgesetzt hat. Gleichzeitig
ist nach EU-Richtlinien ein „bedenkliches Ungleichgewicht“ im Außenhandel bei
einem Defizit ab -4%, aber erst bei einem Überschuss ab +6% definiert. Auch als
diese Grenze von Deutschland noch deutlich überschritten wurde, kam es jedoch
nicht zu einem Strafverfahren, welches für diesen Fall eigentlich vorgesehen
wäre. Gegen den Willen von Deutschland und Frankreich, die sich grundsätzlich
absprechen, kann in der EU praktisch nichts durchgesetzt werden.
Die EU bietet Deutschland jedoch nicht nur
vorteilhafte Ausbeutungsbedingungen innerhalb Europas. Durch die Zollunion hat
die EU als größter Binnenmarkt der Welt eine sehr starke Position bei der
Ausgestaltung von Handelsbeziehungen mit dem Rest der Welt. Diese spielt sie
bei der Aushandlung von „Freihandelsabkommen“ mit anderen Wirtschaftsräumen
(zuletzt mit dem MERCOSUR) aus, um ihren Mitgliedern Vorteile zu verschaffen,
die sie allein niemals bekommen würden.
Perspektiven
Die ökonomische Macht, die Deutschland
(noch verstärkt durch die EU) innehat, hat sich bisher nicht in militärische
Stärke übersetzt. Deutschland verfügt nicht über Atomwaffen und hat eine wenig
kriegserfahrene Armee, welche, glaubt man den bürgerlichen Medien, kaum
einsatzfähig ist. Inwieweit das tatsächlich zutrifft, lässt sich kaum sagen, da
erstens die Bundeswehr in ihren Einsätzen bislang nur eine ergänzende Rolle
spielt und zweitens die „Experten“ aus Politik, Medien und Militär mit ihrer
„Einschätzung“ stets das Interesse verfolgen, den Militärhaushalt zu erhöhen.
Dieses Interesse besteht in der herrschenden Klasse relativ unabhängig von der
tatsächlichen Einsatzbereitschaft und Bedrohungslage, denn das Militär wird
traditionell auch gerne dazu genutzt, überschüssiges Kapital zu vernichten, von
dem weltweit reichlich vorhanden ist.
Deutschland ist fest in die NATO integriert
und auf absehbare Zeit militärisch von ihr abhängig. In diesem Jahr zeigt sich mit der NATO-Übung Defender 2020
außerdem Deutschlands Schlüsselrolle als europäisches Aufmarschgebiet. Trotz
der Rhetorik von Trump: Das Bündnis ist für die herrschenden Klassen in Europa
und Nordamerika zu vorteilhaft, als dass sie es aufgeben könnten. Trotzdem wird
auf deutsch-französische Initiative hin seit 2016 versucht, im Rahmen der EU
den europäischen Teil der NATO zu stärken, um die Abhängigkeit zumindest zu
verringern. Dieser Prozess geht noch langsam voran, kann aber langfristig den
deutschen Imperialismus auf eine neue Stufe heben. Auch deshalb ist die EU das
mit Abstand wichtigste Projekt der deutschen Bourgeoisie.
In den letzten Jahren wird von den
deutschen Verteidigungsministerinnen zunehmend versucht, Deutschland in alle
möglichen Einsätze von NATO-Partnern hineinzureden. Das zeigt den Anspruch, die
militärische Komponente der eigenen Machtbasis zu verstärken, läuft aber bisher
unter dem Motto „Dabei sein ist alles“. Für mehr gibt es in der Bevölkerung
auch noch keine Akzeptanz. Es ist nicht zu erwarten, dass Deutschland in den
nächsten Jahren eigenständige Interventionen durchführt oder eine Führungsrolle
übernimmt, es geht vielmehr darum mit möglichst geringem Aufwand überall einen
Fuß in der Tür zu haben. Das wichtigste Ziel Deutschlands ist, seine
wirtschaftliche Dominanz aufrechtzuerhalten. In der aktuellen Phase ist die
Exportstärke dabei Segen und Fluch zugleich, denn das deutsche Modell ist von
der Nachfrage aus dem Ausland abhängig und wäre bei der sich anbahnenden
Wirtschaftskrise besonders betroffen. Der Versuch überall zu deeskalieren, wo
die globale Konjunktur auf dem Spiel steht, erklärt sich genau aus dieser Rolle
im Weltsystem.
So kommt es trotz der nach wie vor engen
Bindung an die USA zu Konflikten bspw. im Umgang mit China oder dem Iran, in
denen Deutschland vor allem zu besetzende Märkte sieht. Der Fall der Ostsee-Pipeline Nord-Stream 2 und die
Verstrickung Deutschlands in die „Belt and Road Initiative“ des chinesischen
Imperialismus verdeutlicht die Zwischenposition, die Deutschland zwischen den
großen Machtblöcken einnimmt und die Potenzial hat, zu weiteren Konflikten
zwischen Berlin und Washington zu führen.
Was heißt das für uns?
Durch die Ausbeutung anderer Länder wird
die Ausbeutung im eigenen Land nicht aufgehoben. Der Kampf der Arbeiterklasse
gegen den Imperialismus kann nur internationalistisch erfolgreich geführt
werden. Internationalismus heißt dabei nicht, ein Bündnis aus kapitalistischen
Staaten aus der lächerlichen Illusion heraus zu verteidigen, dass dieses für
Frieden und humanistische Werte einstünde. Internationalismus heißt, gegen die
„eigene“ herrschende Klasse und ihre Institutionen zu kämpfen, die uns und die
weltweite Arbeiterklasse unterdrücken, dort wo wir sind. Für uns heißt das:
Kampf dem deutschen Kapital, Kampf der NATO und Kampf der EU! Dem Imperialismus
den Boden entziehen durch Enteignung der Banken und Konzerne! Demokratische
Planung und Verwaltung der Wirtschaft durch die Arbeiterklasse! Um das zu
erreichen, müssen wir uns organisieren und eine revolutionäre Partei als
Kampforganisation der Arbeiterklasse aufbauen. Mach mit bei Offensiv!