Víctor Taibo, Exekutivkomitee von Izquierda Revolucionaria
(Schwesterorganisation von Offensiv im spanischen Staat)
Erschienen auf Spanisch am 10. Dezember 2019
Am 12. Dezember finden in England die dritten
Parlamentswahlen innerhalb von vier Jahren statt. Diese ungewöhnliche Situation
spiegelt das Ausmaß der politischen und institutionellen Krise des Landes
wider. Die bisherigen Umfragen deuten auf einen Sieg von Boris Johnson hin,
sogar auf eine absolute Mehrheit. In der letzten Woche scheint Corbyn jedoch
die Kluft zwischen ihm und Johnson verringert zu haben. Dies ist inmitten
Wahlkampfs geschehen, der sich um die katastrophale Situation des nationalen
Gesundheitssystems (NHS) und die Gefahr eines Brexits der Bosse, mit mehr
Privatisierungen und weiteren Kürzungen, dreht.
Für einen sozialistischen Brexit
Die Informationen, die über die geheimen Verhandlungen
zwischen Johnsons Regierung und der von Donald Trump veröffentlicht wurden und
die auf ein geplantes Freihandelsabkommen hindeuten, haben nur bestätigt, was
über die Pläne des US-Imperialismus bereits vermutet wurde. Über die Absicht
der US-Komzerne, den öffentlichen Dienst zu privatisieren und zu übernehmen,
ist eine der Bedingungen für ein Handelsabkommen, und es wäre eine echte
Kriegserklärung für britische Arbeiterfamilien.
Dies ist einer der wesentlichen Punkte der aktuellen Debatte,
zeigt aber auch Corbyns Schwächen in Bezug auf die Frage des Brexit. Seine
Position in diesen Monaten, um nicht zu sagen Jahren, war verwirrend und
zweideutig, bis er sich schließlich für ein neues Referendum entschied, das dem
Druck des rechten Flügels der Labour-Partei, der sich um blairistische
Abgeordnete gruppiert, nachgab.
Corbyn hat versucht, den Kreis zu quadrieren, und das
Ergebnis ist kein positives. Einerseits hat er noch keinen offenen Kampf gegen
die prokapitalistischen Sektoren von Labour geführt, denen er zahlreiche
Zugeständnisse gemacht hat und die einen entscheidenden Einfluss im
parlamentarischen Apparat haben. Es handelt sich dabei um völlig korrupte
Individuen, die sich wie ein trojanisches Pferd der Konservativen in den Reihen
der Arbeiterbewegung verhalten. Und Corbyn überlässt ihnen wertvollen
Spielraum, um weiterhin ihre Politik durchzusetzen und jede effektive
Linksverschiebung aktiv zu sabotieren.
Andererseits hat er auf die Forderung eines sozialistischen
Brexits verzichtet, d.h. auf einen Bruch mit den Kapitalisten der EU und ihrer
Agenda von Kürzungen und Sparpolitik. Zwischen der EU der großen Monopole und
dem Bankwesen von Trump und den USA gibt es eine Alternative: ein
sozialistisches Europa, das auf der Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und
ihrer demokratischen Planung basiert. Dies ist die einzige Position, die
Johnsons Demagogie und die Kapitulation des blairistischen Flügels von Labour
bloßstellen könnte.
Erneutes Aufschieben
Nachdem Boris Johnson geschworen hatte, dass Großbritannien
am 31. Oktober aus der EU ausgetreten wäre, musste er - mit Zustimmung von
Brüssel - eine erneute (die dritte) Aufschiebung beantragen, durch die der
Austritt auf den 31. Januar 2020 verlegt wurde.
Das neue Abkommen wurde vorerst vom britischen Parlament
ratifiziert, bis die Gesetze verabschiedet sind, die es konkretisieren und in
die Praxis umsetzen sollen. Dies wird eine Aufgabe sein, die für die Bildung
einer neuen Regierung entscheidend ist. Es darf nicht vergessen werden, dass
dieses Abkommen von dem Verbündeten der Konservativen, der DUP, der
nordirischen Unionisten, abgelehnt wurde, die sich dagegen wehren, dass die
Grenze zur EU in der Nordsee, d.h. zwischen Nordirland und dem übrigen
Großbritannien, liegt, und dass Nordirland daher in der Zollunion bleibt. Eine
Situation, die die DUP und die Protestanten fürchten, weil sie der Idee der
irischen Vereinigung Flügel verleiht, und die damals sogar Theresa May
ablehnte. Boris Jonson ist jedoch noch weiter gegangen und hat seine Verbündeten
bei der DUP völlig ignoriert.
Innerhalb oder außerhalb der EU, im Kapitalismus gibt es
keine Lösung für die soziale Krise in Großbritannien
Die Resolution Foundation hat kürzlich festgestellt, dass der
Lohnanstieg im letzten Jahrzehnt, zwischen 2010 und 2020, der niedrigste in
Friedenszeiten seit den Napoleonischen Kriegen war, und dass die Zahl der
Menschen, die trotz ihrer Arbeit arm sind, von Tag zu Tag zunimmt. Verschiedene
Berichte weisen darauf hin, dass immer mehr britische Familien gezwungen sind,
auf die Hilfe von Charityorganisationen zurückzugreifen, um auch nur an die
Lebensgrundlagen ihrer Kinder zu kommen. Gleichzeitig wächst die Kluft zwischen
Arm und Reich weiter: Nur die reichsten 1.000 Menschen Großbritanniens besitzen
771 Milliarden Pfund.
Andererseits hat die britische Wirtschaft seit dem
Brexit-Referendum 2016 2,5 % ihres BIP eingebüßt, und die ausländischen
Investitionen sind um 15 % gesunken, was zeigt wie unmöglich es ist, sich von
einer globalisierten Wirtschaft abzuschotten. Ökonomischer Nationalismus ist
eine reaktionäre Utopie. Die britischen Bosse haben darauf hingewiesen, dass
sich sowohl das verarbeitende Gewerbe als auch der Bausektor, d.h. die
produktiven Sektoren, seit Monaten in einer Rezession befinden, mit Rekordinsolvenzen
seit 2013 und einem anhaltenden Rückgang der Auftragseingänge in den letzten
sechs Monaten.
Im Kontext des Handels- und Zollkriegs, zu dem Brexit gehört,
ist die britische Bourgeoisie gespalten. Ein Sektor setzt auf ein Bündnis mit
den USA, während ein anderer weiterhin auf die EU schaut, insbesondere
Unternehmen, die industrielle Güter exportieren wollen, da 50% seiner Produkte
auf die EU-Märkte gehen. Das erklärt Trumps Einmischung in den britischen
Wahlkampf, was Jeremy Corbyn von Labour wütend angreift und im Zuge dessen
Corbyn Johnsons Abkommen mit der EU angreift.
Offensichtlich hat keiner der oben beschriebenen zwei
Sektoren eine andere politische Lösung zu bieten als weitere Angriffe auf die
Arbeiterbewegung, Lohnkürzungen und weitere Sparmaßnahmen.
Nieder mit Johnson! Für ein wirklich sozialistisches
Programm
Der Vorteil der Tories in den Umfragen ist auch das Ergebnis
des Rückzugs der Brexit-Partei von Nigel Farage, Gewinner der letzten
Europawahlen. Zuerst trat ihr Führer zurück, und dann zogen sie ihre Kandidaten
in allen Wahlkreisen zurück, wo der Sieg des Kandidaten der Konservativen
Partei gefährdet sein könnte. Zweifellos ist dies eine Entscheidung der großen
Wirtschaftsmächte, die darauf abzielt, die rechten Stimmen nicht zu spalten und
einen Corbyn-Sieg um jeden Preis zu vermeiden.
Die aktuelle politische Situation ist aufgrund der
tiefgreifenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise und der enormen
Unzufriedenheit, die sich im Laufe der Jahre in der Gesellschaft angesammelt
hat, sehr volatil. Corbyns Wahlprogramm - das linkeste seit den 70er-Jahren -,
sieht unter anderem vor, dass Privatisierungen öffentlicher Unternehmen
rückgängig gemacht und Post und Eisenbahnen sowie die wichtigsten Teile des
Energiesektors und des Wassers verstaatlicht werden sollen. Ein weiterer wesentlicher
Punkt ist ein Investitionsplan für das öffentliche Bildungswesen und das
Nationale Gesundheitssystem (NHS), das sich seit Jahren in der Krise befindet.
Das Programm beinhaltet auch die Abschaffung der Studiengebühren und von
Nullstundenverträgen und extrem prekärer Arbeitsverträge, bei denen der
Arbeitgeber nur für die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden bezahlt.
Zweifellos ist dieses Programm ein Fortschritt im Vergleich
zu denen, die von Formationen wie Podemos im spanischen Staat aufgestellt wurden.
Aber das Problem liegt darin, dass Corbyn zusammen mit der Mehrheit der
Gewerkschaftsbürokratie (ein Großteil davon bezeichnet sich selbst als links)
in den letzten Jahren darauf verzichtet hat, eine kämpferische Strategie des
sozialen und proletarischen Widerstands zu entwickeln. Selbst in diesen Monaten
der schweren institutionellen Krise, zu der auch die Schließung des Parlaments
gehörte, machte Corbyn den schweren Fehler, sich an die konservativen und
liberalen Abgeordneten zu wenden und um Unterstützung zu bitten, um die Krise
abzuwenden, obwohl auch sie für eben jene Sparpolitik und Kürzungen
verantwortlich sind, die Millionen in Armut und Verzweiflung gestürzt haben.
Ein weiterer Fehler war die Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts Schottlands,
das unter den derzeitigen Bedingungen die Unterstützung der SNP (Scottish
National Party) verhindert.
Der Klassenkampf ist nicht dasselbe wie der Wahlkampf. Es ist
üblich, dass Gewerkschaftsführer auf Kongressen den Mund mit „linken“ Proklamationen
füllen. Aber in der Praxis waren sie nicht in der Lage, einen mutigen und
anhaltenden Kampf gegen die sozialen Angriffe der Tories zu führen, und sie
begnügten sich mit Krümeln für die Arbeiteraristokratie – die häufig einen
beträchtlichen Anteil der Delegierten auf diesen Kongressen ausmacht –, während
sich Unsicherheit und Niedriglöhne wie eine Epidemie unter Millionen von Arbeiterinnen
und Arbeitern ausbreiteten. Es ist auch überraschend, dass viele der
Organisationen, die behaupten, zur militanten und sozialistischen Linken zu
gehören, eine so folgenschwere Position dieser Gewerkschaftsbürokratie hinnehmen,
obwohl sie weitgehend für das verantwortlich ist, was in diesen Jahren
geschehen ist, weil sie nicht in der Lage war, einen offenen Kampf dagegen zu
führen.
Diese fehlende Mobilisierung der Arbeiterklasse, die in keinem
Fall das Spiegelbild ihrer „Unreife“ oder ihres „niedrigen Bewusstseinsstands“
ist, sondern der schändlichen Politik der Gewerkschaftsbürokratie und der
versöhnlerischen Tendenzen von Corbyn, ist der Grund dafür, warum auf Wahlebene
Corbyn alles andere als eine klare Führungsrolle einnimmt und warum Johnson
eine Regierung bilden könnte.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es am Ende zu einem
Umschwung kommt und Corbyn gewinnt, denn die aktuelle Situation ist mehr als
instabil.[1] Daher
auch die Kampagne, an der sich alle Medien einstimmig beteiligen, die sein
Programm als verrückt und gefährlich diffamiert.
Ein Sieg von Corbyn wäre ein echtes Erdbeben. Doch schon am nächsten Tag werden
– wie es auch in Griechenland geschah – sowohl die britische als auch die
europäische und US-amerikanische Bourgeoisie alles daran setzen, eine solche
Regierung niederzuhalten. In diesem Fall, wenn Corbyn dem Weg von Tsipras in
Griechenland nicht folgen will, hat er nur eine Möglichkeit: sich auf die
Mobilisierung der Massen der Arbeiterklasse und Jugend auf den Straßen zu
stützen, um den großen Wirtschaftsmächten die Stirn zu bieten, ein wirklich
sozialistisches Programm zu verteidigen, das mit der kapitalistischen Logik
bricht, und die Arbeiter, Jugendlichen und alle Unterdrückten Europas zur
Solidarität und zum Aufstand aufzurufen.
[1] Das
britische Wahlsystem wählt keine Abgeordneten im Verhältnis zur Gesamtzahl der
Stimmen, sondern einen Abgeordneten für jeden Wahlkreis. Auf diese Weise kann
es vorkommen, dass eine Partei mit mehr Stimmen insgesamt die Wahlen verliert.