von Miguel Angél Domingo, Exekutivkomitee von Izquierda Revolucionaria (Spanischer Staat)
Veröffentlicht auf Spanisch am 02. November 2019
Am 1. Oktober begann der größte
Aufstand der irakischen Massen der letzten Jahrzehnte. Die Bilder, die wir in
den Nachrichten und sozialen Netzwerken sehen, sind überwältigend: Tausende von
jungen Menschen stehen unbewaffnet Polizei und Armee gegenüber, die ihren
Protest mit scharfer Munition und Schusssalven beantworten. Auch nach Ansicht
einiger Journalisten, die auch Kämpfe mit dem Islamischen Staat erlebt haben,
sind das die brutalsten Gewaltexzesse die sie je gesehen haben. Obwohl diese
militärische Repression schon über hundert Tote gefordert hat – einige Quellen
sprechen sogar von 180 –, mehr als 6.000 Verletzte und Hunderte von Gefangenen,
haben die Demonstranten die Straßen nicht verlassen.
Das massive soziale Erdbeben im
Irak begann in Bagdad, in einer Massendemonstration ohne Führung einer Partei
oder religiösen Gruppe. Die Parolen der Bewegung sind ein Angriff gegen das kapitalistische
Regime des Irak und spiegeln die Situation des Landes 16 Jahre nach der
imperialistischen Invasion wider: sie richten sich gegen Arbeitslosigkeit,
gegen zügellose Korruption, gegen den bedauernswerten Zustand des öffentlichen
Dienstes, gegen die Regierung eines Landes mit den fünftgrößten Ölreserven der
Welt, das nicht in der Lage ist, seine Bevölkerung mit Strom zu versorgen,
gegen Sektierertum und Einmischung ausländischer Mächte – sowohl gegen die USA
als auch gegen den Iran – und sind Ausdruck einer weit verbreiteten Müdigkeit
gegenüber dem gesamten institutionellen Apparat. Der Slogan des arabischen
Frühlings 2011 „Das Volk will, dass das Regime fällt“ wurde wieder aufgegriffen.
Die Demonstrationen breiteten
sich rasch nach Süden aus, der vor allem schiitisch geprägt ist, und macht so
den nicht-sektiererischen Charakter der Bewegung deutlich, was die Lehren aus
den Jahren des Sektierertums widerspiegelt, die von den verschiedenen
regionalen Mächten und dem Imperialismus, der das Gift der religiösen Spaltung
genutzt hat, gefördert wurden.
Die Repression scheitert, die Regierung versucht zu verhandeln
Die Reaktion der Regierung war
die brutalste Unterdrückung: Polizeieinheiten zur Aufstandsbekämpfung,
Antiterror- und Armeeeinheiten, mit Maschienengewehren; Sperrung des
Internetzugangs für 75% der Bevölkerung über mehrere Tage; Ausgangssperre für
48 Stunden, die aufgrund der Tatsache, dass sie die Bewegung nicht gestoppt
hat, aufgehoben wurde.
Angesichts des Scheiterns der
Repression versucht die Regierung nun, die Verhandlungskarte zu spielen. Die
Regierung hat „Exzesse“ und „Fehlbehandlung der Demonstranten“ eingeräumt,
Entschädigungen für Angehörige von Ermordeten und Verletzten und eine Erhöhung staatlicher
Hilfen angekündigt und generelle „Veränderungen“ versprochen, die aber direkt
durch ein „Wir haben keine magischen Lösungen“ relativiert. All das ist ein
Versuch, die Massen zu täuschen und sie so dazu zu bringen, wieder nach Hause
zu gehen.
Der Premierminister Adel Abdel
Mahdi, ist der typische bürgerliche Emporkömmling. Das ehemalige Mitglied der
Führung der Kommunistischen Partei konvertierte im Exil zu Khomeinis
Fundamentalismus, um in dem von den US-Invasoren eingesetzten Marionettenregime
Fuß zu fassen, zuerst als Finanzminister zwischen 2004 und 2005 und dann als
Vizepräsident zwischen 2005 und 2011.
Es ist 16 Jahre her seit der
imperialistischen Invasion, die Saddam Hussein gestürzt hat. 60% der 40
Millionen Iraker sind unter 30 Jahre alt, und die Jugendarbeitslosigkeit liegt
laut verschiedenen Quellen zwischen 25% und 40%. Die Mehrheit der Bevölkerung
kennt nur die alptraumhaften Lebensbedingungen im Irak nach dem Krieg. Laut
www.middleeasteye.net sind unter Berufung auf offizielle Zahlen „seit 2004 rund
450 Milliarden Dollar an öffentlichen Geldern in den Taschen von Politikern und
Geschäftsleuten verschwunden“. Es gibt keine Notwendigkeit für „magische
Lösungen“: was nötig ist, ist die Enteignung der Parasiten, die die
gesellschaftlichen Reichtümer unter sich aufteilen, um ihn in die Hände der
Mehrheit der Bevölkerung zu legen.
Obwohl während der Revolution,
die 2011 durch die arabische Welt zog, die Mobilisierungen im Irak einen viel
geringeren Umfang hatten als in anderen Ländern, hörte der Klassenkampf nicht
auf. Trotz des sektiererischen Alptraums in Form von Bürgerkriegen, die vom
Imperialismus oder dem Aufstieg des islamischen Staates gefördert wurden, gab
es wichtige Mobilisierungen und Versuche, die Arbeiterbewegung zu reorganisieren.
Im Jahr 2016 gab es eine massive
Mobilisierung in Bagdad, die schließlich in die Grüne Zone – ein gepanzertes
Viertel, in dem sich die Regierung und die Botschaften befinden – eindrang und
das Parlament angriff. Im Sommer 2018 brach im schiitischen Süden ein neuer
Aufstand mit einem Epizentrum in Basra gegen Stromausfälle und en maroden
Zustand des öffentlichen Diensts aus. Diese Revolte markierte das Ende der
Hoffnungen auf eine Wiederwahl des ehemaligen Premierministers Haider al-Abadi.
Keine Mobilisierung hatte jedoch das Ausmaß, die Tiefe und einen so
entschiedenen Kampf gegen das Sektierertum wie die, die wir jetzt erleben.
Al Sadr's Rolle
In Ermangelung einer
revolutionären Organisation haben andere Bewegungen die weit verbreitete
Unzufriedenheit genutzt. Möglicherweise ist die bedeutendste die des Klerikers
Muqtada Al Sadr, mit einer Massenbasis, die unter der am meisten unterdrückten
und verarmten schiitischen Bevölkerung zuerst ihre Wurzeln schlug, aber mithilfe
einer nicht-sektiererischen irakisch-nationalistischen Rhetorik angewachsen
ist, die es ihm ermöglicht hat, seine Basis zu erweitern. In den letzten Jahren
hat die Al-Sadr-Bewegung im Bündnis mit der Kommunistischen Partei gehandelt,
die Mobilisierung 2016 in Bagdad geleitet, sich bei den letzten Wahlen
gemeinsam präsentiert und war die am meisten gewählte Kandidatur.
Auch wenn das Anwachsen ihrer
Bewegung ein guter Anhaltspunkt für die Stimmung der Massen gewesen ist, sind Al
Sadr und seine Bewegung weit davon entfernt, Revolutionäre zu sein. Sie stellen
den Status quo nicht in Frage. Nur wenige Wochen vor Ausbruch der Bewegung
besuchte Al Sadr am 10. September den Iran. Dort wurde er mit Ayatollah
Khamenei und Qasem Soleimani fotografiert, die für die Tätigkeit der iranischen
Revolutionsgarde im Ausland (Syrien, Irak, etc.) verantwortlich sind. Obgleich
Al Sadr versucht, die Massen zu erreichen, die den Rücktritt von
Premierminister Mahdi fordern, wird es nicht einfach sein. Erstens will die
Bewegung nicht nur Mahdis Rücktritt, sondern auch eine radikale Veränderung der
Lebensbedingungen, und diese Veränderung beginnt mit dem Fall des Regimes.
Zweitens haben Al Sadr und die Kommunistische Partei bei der Bildung der
reaktionären Regierung von Mahdi eine entscheidende Rolle gespielt. Drittens
hat das gemeinsame Foto mit den Verantwortlichen der Intervention des Iran im
Irak die angebliche nationale Unabhängigkeit seiner Bewegung ruiniert.
Iran und die EU
Der Irak ist seit 2003 ein
Schlachtfeld, auf dem Kämpfe zwischen den USA und dem Iran ausgetragen werden.
Irgendwann musste sich der US-Imperialismus auf den Iran verlassen, um die
Situation im Irak zu kontrollieren. Das ist es, was hinter dem Atomabkommen
2015 stand, das Trump im vergangenen Jahr aufgelöst hat. Beide imperialistische
Mächte kontrollieren verschiedene Machtparzellen und verschiedene Sektoren des
Militärapparats, und beide haben diese Massenbewegung mit Sorge aufgenommen.
Das US-Außenministerium erklärte, dass sie das Recht auf Protest respektieren, die
Gewalt verurteilen und zur Ruhe aufrufen. Außerdem unterstützen sie die
Stabilität und Sicherheit im Irak. Eine Zärtlichkeit, die im Gegensatz zu ihren
Aussagen gegenüber Venezuela steht. Der Imperialismus hat 5.000 Soldaten im
Irak und will die größtmögliche Kontrolle über das Land bei geringsten Kosten
behalten.
Das iranische Regime sucht die
Schuld an den aktuellen Ereignissen wie immer in solchen Fällen bei
Infiltratoren der USA, Saudi-Arabiens und Israels. Sie haben Grund zur Sorge.
Auf der einen Seite stellt eine Massenbewegung die von ihnen im Irak sorgfältig
erarbeitete Machtposition mehr denn je seit 2003 in Frage. Andererseits
befürchten sie, dass sich diese nicht-sektiererische Revolte innerhalb der
Grenzen des Iran ausbreiten und die Mobilisierungen der iranischen
Arbeiterklasse 2017-18 gegen die Arbeitslosigkeit, den Rückgang des Lebensstandards
und den weitgehenden Sozialabbau wiederbeleben könnte, und zwar zu einem
Zeitpunkt, da die US-Sanktionen gegen den Iran ihre Wirtschaft hart treffen,
mit dramatischen Folgen für die Massen.
Für eine revolutionäre Alternative
Die irakische Rebellion geschieht
im Kontext eines erneuten Anwachsens der Klassenkämpfe in der arabischen Welt.
Angefangen bei den Revolutionen in Algerien und dem Sudan über die
Mobilisierungen gegen die Diktatur von General Sisi in Ägypten, gegen
Sparmaßnahmen im Libanon oder den Lehrerstreik von mehr als einem Monat gegen
die jordanische Regierung ein Jahr nach den Demonstrationen, die den
Premierminister dieses Landes gestürzt haben.
Wir befinden uns in den ersten
Phasen großer und massenhafter Kämpfe. Der Kapitalismus bewegt sich weltweit in
Richtung einer Wirtschaftskrise, die sehr schwerwiegende Folgen haben wird,
insbesondere in Gebieten wie dem Nahen Osten. Die verschiedenen Bewegungen von
Arbeitern, Jugendlichen, Armen, Frauen,... in diesen Ländern in den letzten
Jahren haben deutlich gezeigt, wie die Bewegung aus ihren Erfahrungen und auch
aus ihren Niederlagen lernt. Aber wir müssen noch weiter gehen. Die letzten
Jahrzehnte haben eindrucksvoll bewiesen, dass weder die Bourgeoisie dieser
Länder noch der Imperialismus etwas zu bieten hat außer Korruption, Elend und
Krieg.
Eine der am häufigsten gesungenen
Parolen bei den Demonstrationen im Irak war „weder politisch noch religiös“,
was die Ablehnung der gesamten herrschenden Klasse widerspiegelt. Keine Partei
konnte sich als Sprecher der Massen etablieren, und das war bisher ein sehr
positiver Faktor. Aber aus allen Bereichen (Regierung, offizielle Parteien,
religiöse Autoritäten, Imperialismus...) werden sie versuchen, die Revolution in
falsche Bahnen zu leiten, um sie zu zerschlagen. Es ist wichtig, eine
revolutionäre Partei aufzubauen, die sich auf die Arbeiterklasse, die Jugend
und die Unterdrückten stützt, die einzige Kraft, die sich als fähig erwiesen
hat, das irakische kapitalistische Regime zu gefährden. Eine Partei, die die
Vertreibung der imperialistischen Besatzer vorantreibt, die Oligarchen, auf die
sie sich stützt, stürzt und die Schlüsselindustrien (Öl, Gas,..) enteignet und
sie der demokratischen Kontrolle der einfachen Bevölkerung unterstellt. Das ist
die erste und wichtigste Aufgabe im Irak, im Nahen Osten und in der übrigen
Welt.