Das Bewusstsein und die revolutionäre Führung: Fragen
marxistischer Strategie
Erklärung der Internationalen Revolutionären Linken,
Veröffentlicht auf Spanisch am 04.Dezember 2019
Eine
Explosion von revolutionären Aufständen und Rebellionen erschüttert die Welt.
Millionen von Arbeitern und Bauern, verarmte Teile der Mittelschicht und die
Jugend haben - ihrer Rechte beraubt - bewiesen, dass Revolutionen nicht der
Vergangenheit angehören. Die Kämpfe in Honduras, Haiti, Ecuador, Chile,
Bolivien, Kolumbien, Algerien, Sudan, Irak, Libanon, Hongkong... sind Ausdruck
einer aktuellen Entwicklung und machen den anderen Ländern vor, was eine
weitere Zuspitzung der Phase von Revolution und Konterrevolution bedeuten kann.
Die internationalen Aufstände sind das Ergebnis einer tiefen sozialen und politischen Krise. Reformen im Interesse der herrschenden Klasse, Privatisierungen, Kürzungen, Sparpolitik, eine soziale Ungleichheit in bisher ungekanntem Ausmaß, und autoritäre Angriffe auf die demokratischen Rechte der Bevölkerung haben tiefgreifende Auswirkungen gehabt. Das Bewusstsein von Millionen von Unterdrückten hat einen großen Schritt nach vorne gemacht, die kapitalistische Ordnung wird mehr und mehr in Frage gestellt. Die derzeitigen Kämpfe haben nicht einfach „gewöhnliches“ Ausmaß, sondern sind Ausdruck einer qualitativen Veränderung. Nicht nur wurden zahlreiche bürgerliche Regierungen mit dem Rücken zur Wand gedrückt, in einigen Fällen bis hin zu ihrem Rücktritt; die heutigen Aufstände sind auch ein Einblick in das revolutionäre Potenzial, das es zur sozialistischen Veränderung unserer Gesellschaft braucht.
In allen genannten Ländern gab es große Generalstreiks, die das wirtschaftliche und soziale Leben des Landes gelähmt haben. Ausnahmslos alle von ihnen wurden durch den Druck von unten erkämpft, gegen die bürokratischen Apparate der Gewerkschaften, die dazu gezwungen wurden, zum Streik aufzurufen. Die Massendemonstrationen waren von historischer Größe und konnten deshalb von den bürgerlichen Medien nicht einfach ignoriert werden.
Klassische Methoden des Kampfes haben in den letzten Aufständen dominiert: Streiks, Besetzungen, Straßensperren, Massenmobilisierungen, Versammlungen und Komitees. Im Libanon und im Irak konnten sich Ansätze der Klasseneinheit gegen sektiererische Tendenzen durchsetzen und haben so Organisationen, die sich vorwiegend auf sektiererische fundamentalistische Weltanschauungen stützen in die Enge getrieben.
In allen dieser Aufstände mussten sich die Massen mit der brutalen Unterdrückung durch den Staatsapparat auseinandersetzen und haben sie kühn beantwortet. Man sehe sich nur die bolivianischen Arbeiter und Bauern in El Alto, LA Paz und Cochabamba an und wie mutig sie sich den Putschisten widersetzen; mit welcher heldenhaften Entschlossenheit die chilenische Jugend in den Straßen von Santiago sich der mörderischen Regierung von Piñera entgegenstellt oder die Einwohner von Bagdad, die wieder und wieder auf die Straße gingen obwohl mehr als 500 von ihnen bereits durch die Schüsse der Armee getötet wurden. Da müssen wir nicht auf ein paar wenige Salonrevolutionäre hören, die über das mangelnde „sozialistische Bewusstsein“ lamentieren und darüber, dass sie nur eine „unreife“ Bewegung vorfinden.
Wie auch schon bei vergangenen Revolutionen, versteht die Bourgeoisie was die heutigen Ereignisse bedeuten und handelt entsprechend. Die Aufgabe von Marxisten ist es nicht, den Massen eine Lektion zu erteilen, sondern energisch mit einem Programm, einer klaren Taktik und Strategie einzugreifen um zum Sieg voranzuschreiten.
Der Stand des Bewusstseins und seine Entwicklung
Sowohl die Parteien der reformistischen Linken als auch einige, die sich selbst als revolutionär bezeichnen, hören nicht auf zu betonen, dass das zentrale Problem unserer Epoche das mangelnde Bewusstsein der Arbeiterklasse und Jugend und der Verlust ihrer Traditionen wäre. Sicherlich hatte der Zusammenbruch des stalinistischen Regimes in allen politischen Bereichen negative Auswirkungen für die Arbeiterklasse. Er öffnete einer massiven ideologischen Konterrevolution und neoliberalen Agenda Tür und Tor, beförderte die Rechtsentwicklung der traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung und schuf unter dem Label der „Globalisierung“ „neue Märkte“ für Investitionen, die Ausweitung des Handels und der Ausbeutung von Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern als Bestandteil der internationalen kapitalistischen Arbeitsteilung. Diese Faktoren zusammen waren der Grund für den auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgenden und über Jahre anhaltenden Wirtschaftsboom.
Doch der Klassenkampf hat 1989 nicht geendet. Schon in der Zeit vor der großen Rezession 2008 markierten eine Reihe von Ereignissen eine qualitative Veränderung der objektiven Situation. Die imperialistische Invasion im Irak, begleitet von Massenbewegungen im Westen, war eines davon. Die Propaganda eines Kapitalismus der „Demokratie, Frieden und Wohlstand“ garantiert, wurde in einer Atmosphäre der Wut über die militaristischen Abenteuer der weltweiten Großmächte in Frage gestellt. Dazu kam die revolutionäre Krise, die wichtige Regionen Lateinamerikas erschütterte: die bolivarische Revolution, die Argentinazo 2001, die riesigen Massenkämpfe in Bolivien 2003-2005, in Ecuador 2004-2007, die Bewegung gegen den Wahlbetrug in Mexiko und der Aufstand in Oaxaca im Jahr 2006, die allesamt günstige Bedingungen für einen Bruch mit dem Kapitalismus auf dem Kontinent zurückließen.
Im Anschluss
daran lieferte der Arabische Frühling ein lebendiges Beispiel für die Kraft der
Massen. In Ägypten und Tunesien wurden im Zuge revolutionärer
Bewegungen, die sich später auf Syrien, Libyen, den Jemen und sogar Marokko
ausdehnen sollten, blutige Diktaturen gestürzt. In diesen Bewegungen wurden
proletarische Streiks kombiniert mit Massendemonstrationen und Aktionskomitees,
und ihre internationale Auswirkung war enorm. Der Arabische Frühling
inspirierten Massenbewegungen wie die 15M-Proteste im spanischen Staat und
viele andere. Er war eine angsterfüllende Warnung für die korrupten Oligarchien
dieser Länder und für den US-amerikanischen und europäischen Imperialismus.
Die
Bedingungen für diese Massenausbrüche wurden hervorgebracht von den sich stetig
verschlechternden Lebensbedingungen des einfachen Volkes, struktureller Arbeitslosigkeit
– vor allem in den Reihen der Jugend –, und grausamer
Repression. Es ist ein Verbrechen die Bedeutung dieser historischen Ereignisse
gering zu schätzen. Eine solche aristokratische Verachtung für die Kämpfe und
Erfahrungen der Massen ist uns als Marxisten fremd.
All die
geschilderten Aufstände haben die Machtfrage gestellt, und deshalb müssen auch
wir uns eine sehr konkrete Frage stellen: Was war der entscheidende Faktor für
ihr Scheitern und für den vorübergehenden Triumph der Konterrevolution? War es
die „Abwesenheit des sozialistischen Bewusstseins“ oder die mangelnde „Reife“
der Massen, oder war es der Verrat durch die stalinistischen, reformistischen
und nationalistischen Führungen und das Fehlen einer revolutionären Partei, die
in der Lage ist, eine Strategie zur Machtergreifung anzubieten?
Um diese
Frage zu beantworten, müssen wir grundlegende Kernbestandteile marxistischer
Theorie noch einmal aufgreifen. Anzunehmen, die Arbeiterklasse und die
Unterdrückten würden mit einem abgeschlossenen Kampfplan oder einem klaren
Bewusstsein über ihre politischen Ziele in eine revolutionäre Krise eintreten,
bedeutet, die Dialektik von Klassenkämpfen grundsätzlich in Frage zu stellen.
Trotzki erklärt es im Prolog seiner Geschichte der Russischen Revolution:
„Der unbestreitbarste Charakterzug der Revolution ist
die direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse. In
gewöhnlichen Zeiten erhebt sich der Staat, der monarchistische wie der
demokratische, über die Nation; Geschichte vollziehen die Fachmänner dieses
Handwerks: Monarchen, Minister, Bürokraten, Parlamentarier, Journalisten. Aber
an jenen Wendepunkten, wo die alte Ordnung den Massen unerträglich wird,
durchbrechen diese die Barrieren, die sie vom politischen Schauplatz trennen,
überrennen ihre traditionellen Vertreter und schaffen durch ihre Einmischung
die Ausgangsposition für ein neues Regime. [...] Die Geschichte der Revolution
ist für uns vor allem die Geschichte des gewaltsamen Einbruchs der Massen in
das Gebiet der Bestimmung über ihre eigenen Geschicke.“[1]
Das
Bewusstsein drückt nie automatisch die Reife objektiver Bedingungen aus sondern
hängt in seinem Normalzustand träge dahinter zurück. Es spiegelt vielmehr
Konservativismus und Traditionalismus wider, der sich über Generationen hinweg
angesammelt hat. Nur in Momenten großer Umbrüche durchläuft es abrupte
Veränderungen und holt die historische Entwicklung ein.
In jeder
Klassengesellschaft beeinflussen die Ideen der herrschenden Klasse – reich an
angeblich „rationalen“ und „vernünftigen“ idealistischen Vorstellungen, die die
etablierte Ordnung rechtfertigen sollen – entscheidend das Weltbild der
Unterdrückten. Die Bourgeoisie übt ihre Macht durch ihre Stellung im
Produktionsprozess aus, was ihr sowohl ideologische als auch kulturelle
Überlegenheit sichert. Und das Kleinbürgertum spielt eine wesentliche Rolle bei
der Verteidigung und Vermittlung dieser bürgerlichen Wertvorstellungen.
Die Massen
leiden unter dem Druck der Vergangenheit, und im Gegensatz zu dem, was
Sektierer denken, kann ihr Bewusstsein nicht einfach durch das bessere Argument
auf die Ebene der Ereignisse gehoben werden, sondern nur durch schmerzhafte
Erfahrungen im Klassenkampf. Nicht alle Schichten ziehen die gleichen
Schlussfolgerungen mit der gleichen Geschwindigkeit. Niemals reift das
politische Bewusstsein linear und einheitlich. In revolutionären Ereignissen
entwickelt sich der Fortschritt im Bewusstsein in Sprüngen.
Der große
Unterschied zwischen der russischen Revolution von 1917 und den Prozessen, die
wir aufgezählt haben, liegt nicht in der „Qualität des Bewusstseins“ der
Massen, die ihn anführten, sondern in der Rolle der bolschewistischen Partei in
Russland, die es ermöglicht hat, die versöhnlerische Rolle der reformistischen
Führer beiseite zu schieben und den bürgerlichen Staat zu stürzen , und das
Fehlen einer eben solchen politischen Führung in Tunesien, Ägypten, Venezuela
oder Bolivien.
Die
Unterdrückten, und insbesondere die Arbeiterklasse, können sich nur auf ihre
eigenen Kräfte verlassen, um das alte Regime zu beenden. Aber um dieses
Vertrauen in die eigene Kraft zu gewinnen, brauchen sie eine klare Perspektive,
die nur eine feste und mutige Führung bieten kann. Die Rolle einer
revolutionären Partei wird zum entscheidenden objektiven Faktor von allen. Und
um sich in dieser, der aktuellen Situation richtig zu orientieren ist es
absolut entscheidend, nicht am andauernden Lamentieren über ein fehlendes –
aber früher vorhandenes – „sozialistisches Bewusstsein“ der Massen
festzuhalten.
Revolutionäre
Aufstände
Die Große
Rezession von 2008 war ein historischer Wendepunkt. Die von den Regierungen und
Zentralbanken der Großmächte beschlossenen Maßnahmen wie die finanziellen
„Rettungspakete“, der exponentielle Anstieg der Staatsschulden und eine
aggressive Kürzungspolitik waren nicht in der Lage, die Voraussetzungen für ein
solides und dauerhaftes Wachstum zu schaffen; die Widersprüche der
Weltwirtschaft haben sich verschärft und den Boden für eine erneute
Krisenentwicklung mit unvorhersehbaren Folgen bereitet.
Das ist die
wesentliche Grundlage für die derzeitigen politischen Entwicklungen. Was wir
sehen ist keine zeitweilig begrenzte politische Krise: Es handelt sich um eine
tiefe Krise der Formen bürgerlicher Herrschaft, die sich in den letzten
Jahrzehnten und besonders seit dem Zusammenbruch des Stalinismus
herausentwickelt haben. Was gestern und besonders seit dem Mauerfall noch
Arroganz und Euphorie auf Seiten der herrschenden Klasse war ist heute einer
tiefen Unsicherheit gewichen.
Die
Bourgeoisie hat versucht, die revolutionären Aufstände der vergangenen Monate
nach dem immer gleichen Muster unschädlich zu machen. Zunächst haben ihre
Vertreter es mit den brutalsten Repressionen versucht. Im Sudan, Algerien,
Irak, Ecuador, Bolivien, Kolumbien und Chile haben wir gesehen, wie die
Militär- und Polizeiapparate des Staates mit brutaler Gewalt eingesetzt wurden,
die Hunderttausende von Toten, Verletzten und Verhafteten gefordert hat.
Wenn solche
repressive Maßnahmen scheitern oder die Kampfbereitschaft und Entschlossenheit
der Massen weiter festigen, setzt die herrschende Klasse alle Ressourcen ein,
die ihr das Monopol der politischen Macht gibt.
Dann kommen
die Führer der reformistischen Linken zum Einsatz, die, obwohl auch ihre
Legitimation bereits beschädigt ist und obwohl sie noch so oft von den Massen
überholt wurden, weiterhin bedeutenden Einfluss ausüben. Wie die
materialistische Dialektik lehrt, verabscheut die Natur die Leere.
Man geht
über zur Sabotage aus den Reihen der Bewegung heraus, die in der Bewegung die
Illusionen über „politische Reformen“ verbreiten soll und den gleichen Zweck
hat, wie die Repression: die Bewegung zu verlangsamen und sie zu zerschlagen.
Natürlich hüllen eben diese reformistischen Führungen das alte System der
Ausbeutung der Klassengesellschaft in den Mantel der „Demokratie“. Aber was sie
anstreben sind kosmetische Veränderungen, die die Eigentums- und
Machtverhältnisse nicht grundsätzlich ändern.
Dieser
Aspekt des Reformismus macht indirekt auch die zentrale Schwäche des revolutionären
Marxismus in unserer heutigen Zeit deutlich, denn gerade in solchen Bewegungen
besteht die dringende Notwendigkeit, gegenüber den Kräften des Reformismus
nicht in blindes Nacheifern und Opportunismus zu verfallen, wenn wir seinen
zerstörerischen Einfluss bekämpfen wollen.
Genau
deshalb ist es auch so wichtig, die Kontinuität zwischen dem arabischen
Frühling und dem revolutionären Aufschwung in Lateinamerika in der ersten
Hälfte der 2000er Jahre zu erkennen, um auch die Ereignisse zu verstehen, die
heute Bolivien, Ecuador, Chile, Kolumbien, Sudan, Algerien, Libanon oder Irak
erschüttern. Denn die Erfahrung der vergangenen Kämpfe war nicht umsonst.
Die
Gesamtheit der vergangenen Niederlagen macht unter anderem deutlich, dass es
diesen Nationen nicht möglich sein wird ihrer wirtschaftlichen Rückständigkeit
und der imperialistischen Ausbeutung ein Ende zu setzen, ohne ihre Regierungen
und die kapitalistische Klassengesellschaft zu stürzen. Die aufständische
Bevölkerung all dieser Länder steht deshalb vor ähnlichen Aufgaben.
Mit der
imperialistischen Unterdrückung und den durch den IWF erzwungenen neoliberalen
„Reformen“ zu brechen; mit Massenarbeitslosigkeit, Armut und Privatisierungen
Schluss zu machen; die Arbeitsbedingungen und Löhne drastisch zu verbessern;
ein System menschenwürdiger Renten, Gesundheit und Bildung aufzubauen;
Großgrundbesitz zu enteignen und Agrarreformen durchzuführen; die nationale
Frage auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zu lösen oder die
Rechte der Frau angesichts der patriarchalen Gewalt des kapitalistischen
Systems zu erkämpfen: All das wird nur möglich sein, wenn die Arbeiterklasse an
der Spitze aller Unterdrückten die Macht übernimmt und die nationale
Bourgeoisie und das ausländische Monopolkapital enteignet.
Denn
letztendlich wird nur der Sozialismus den Weg zu echter Demokratie ebnen, die
auf sozialer Gerechtigkeit und kollektivem Eigentum an den Produktionsmitteln
beruht.
Die
chilenische Erfahrung
Marx sagte,
dass aus Sicht des Proletariats ein Gramm Erfahrung eine Tonne Theorie wert
ist. Den Ereignissen in Chile muss deshalb akribische Aufmerksamkeit gewidmet
werden, denn sie sind vorbildhaft für entscheidende Fragen des Programms, der
Taktik und der revolutionären Strategie.
Die
mörderische Regierung von Piñera hängt in der Luft. Weder die Repression und
die hinterlistigen Versprechungen der Regierung, noch die schädlichen
Absprachen mit der Sozialistischen Partei und der Rechten waren dazu in der
Lage, die Bewegung zu stoppen. Ebenso wenig ist dies der versöhnlerischen Politik
der Führungen der „Mesa de Unidad Social“ (MUS) – angeführt von der
Kommunistischen Partei (KPC) und der CUT – gelungen, die gezwungen waren, mit
sechs Generalstreiks auf den Druck von unten zu reagieren. Wir haben in Chile
einen Aufstand erlebt, wie es ihn in den letzten 30 Jahren nicht mehr gegeben
hat.
Was Mitte
Oktober als ein Protest gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr
begann, wurde zu einer Bewegung von gewaltigem Ausmaß: nicht enden wollende
Generalstreiks und Massendemonstrationen. Millionen auf den Straßen,
Aktionskomitees, Formen von Selbstverwaltung und Volksversammlungen haben
deutlich gezeigt, wie reif die objektiven Bedingungen für eine sozialistische
Revolution sind. Die Machtfrage wurde gestellt.
Das
Kräfteverhältnis ist günstig für die Arbeiter und Unterdrückten. In dieser
ganzen Gleichung fehlt nur ein Faktor – und dieser erklärt, warum Piñera immer
noch an der Spitze der Regierung steht – eine revolutionäre Organisation mit
Masseneinfluss.
Diese
Tatsache ist es, was es den reformistischen Führungen erlaubt, zu manövrieren
und einem Regime im Todeskampf immer wieder Leben einzuhauchen. Sie fungieren
als „demokratische“ Ärzte des chilenischen Kapitalismus, und das, während das
einfache Volk auf Chiles Straßen weiterkämpft.
Vom ersten
Moment an hat die Piñera-Regierung auf die Bewegung mit Terror reagiert: mehr
als 30 Tote und mehr als 2.000 Verwundete wurden gezählt, die Hälfte davon
durch Kugeln von Militär und Polizei. Fast 200 Menschen haben ein Auge durch
die Schüsse der Staatskräfte verloren und Menschenrechtsorganisationen prangern
Folter und Vergewaltigungen auf Polizeiwachen an. Das Justizministerium selbst
erkennt an, dass es bis zum 1. Dezember zu mehr als 20.000 Inhaftierten kam.
In den
sozialen Netzwerken zirkulieren dutzende Videos, die an die blutige
Unterdrückung während der Diktatur Pinochets erinnern, und in denen gezeigt
wird wie Soldaten jeden, den sie aufgreifen, erschießen und verprügeln und
dabei die Straffreiheit nutzen, die Piñera ihnen gewährt hat, als er den
Ausnahmezustand ausrief.
Dennoch war
die Repression nicht in der Lage, die Mobilisierung der Massen aufzuhalten. Die
Macht von Millionen von Menschen auf den Straßen triumphierte über die
Ausgangssperre. Das beinhaltet auch eine wertvolle Lektion über die Grenzen des
bürgerlichen Staates – egal, wie viele Waffen er hat – in einer Situation, in
der die Massen ihre Angst verlieren.
Etwas
reformieren, damit alles beim Alten bleibt
Wir können
den gegenwärtigen Aufstand nicht verstehen ohne uns anzusehen, was in den
letzten Jahrzehnten in Chile geschehen ist. Nach dem Vorbild des spanischen
Übergangs blieben die Verbrechen der Pinochet-Diktatur ungestraft.
Der
Staatsapparat wurde nicht von den Faschisten gesäubert, und die Führungen der
Sozialistischen und Kommunistischen Partei gaben dieser Politik auf beschämende
Weise nach, indem sie sich auf einen „Übergang“ einließen, der das
kapitalistische System und seine Privilegien unangetastet ließ.
Der gesamte
institutionelle Rahmen, der nach dem Fall Pinochets geschaffen wurde, sicherte
die Grundlagen des räuberischen Kapitalismus, die Kürzungen im öffentlichen
Sektor und massiver Privatisierungen.
Die
„Sozialisten“ Ricardo Lagos und Michelle Bachelet verfolgten die gleiche
neoliberale Politik und bereiteten damit den Weg für die neue rechte Regierung,
deren Vorsitz einer der wichtigsten Vermögenden Chiles innehat. Diese Situation
hat sowohl zu um sich greifender Verarmung, als auch zu einer Unzufriedenheit
mit dem gesamten politischen System geführt.
Nun ist die
Bewegung über alle Deiche zu ihrer Eindämmung geflossen. Da die Repression ihre
Ziele – trotz ihrem massiven Ausmaß – nicht erreicht hat, greift die
Piñera-Regierung zu Manövern. Eben jener Präsident, der gestern noch erklärte,
dass „das Land sich im Krieg befindet“, musste sich für diese Äußerung
entschuldigen, den Kostenanstieg im öffentlichen Nahverkehr zurückziehen und
einen „Sozialplan“ zur Anhebung der Renten und des Mindestlohns und zur Senkung
der Preise für Medikamente und der Stromtarife vorschlagen.
Aber diese
„Zugeständnisse“ konnten niemanden täuschen. Neue Generalstreiks und
Massendemonstrationen fanden auf der Plaza Dignidad von Santiago (wie sie von
der Bewegung umbenannt wurde) und in den übrigen chilenischen Städten statt. An
dieser Stelle ging die herrschende Klasse einen neuen Schritt und bot
Verhandlungen für eine „neue Verfassung“ an.
Piñera, die
Parteien der Rechten und die Sozialistische Partei unterzeichneten am 15.
November eine Vereinbarung zur „Reform der Verfassung“ und zur Organisation
einer „Volksabstimmung“ im April 2020. Dieses Manöver – um hier kurz auf die
Forderung nach einer „verfassungsgebenden Versammlung“ zu reagieren, die in der
Bewegung außerordentlich populär geworden ist – ist kompletter Betrug.
Es wurde
vereinbart, dass in den Verhandlungen im April zwei Fragen im Vordergrund
stehen sollten: ob eine neue Verfassung gewollt ist oder nicht, und „eine
Meinung zu äußern“, welche Art von Organ die Verfassung entwerfen sollte. Dabei
gäbe es zwei Möglichkeiten: einen „gemischten konstitutionellen Konvent“, der
zur Hälfte aus Parlamentariern und zur anderen Hälfte aus für diesen Anlass
gewählten Bürgern besteht; oder einen „Verfassungskonvent“ mit all seinen
gewählten Mitgliedern. Das zu wählende konstituierende Organ muss die Regeln
und Vorschriften für die Stimmabgabe mit einer Mehrheit von zwei Dritteln
seiner Mitglieder genehmigen. Die Wahl der Mitglieder der beiden möglichen
Konventionen würde im Oktober 2020 zusammen mit den Regional- und
Kommunalwahlen stattfinden, und nach der Ausarbeitung der neuen Verfassung
würde sie in Form einer abschließenden Abstimmung vorgelegt. Das Abkommen wurde
natürlich auf den Namen Pakt „für den sozialen Frieden“ getauft.
Die
Kommunistische Partei und die Führer der MUS weigerten sich, das Abkommen zu
unterzeichnen, das die Regierung rehabilitieren soll und sie von jeglicher
Verantwortung für ihre Verbrechen befreit. Anstatt jedoch den sofortigen
Rücktritt von Piñera zu fordern und einen unbefristeten Generalstreik
vorzuschlagen, bis das Regime gestürzt ist, anstatt die revolutionäre
Alternative der Bildung einer Arbeiterregierung aufzumachen, die effektiv im
Interesse der Bevölkerung agiert, manövriert die Partei, um zu sehen, wie sie
sich an den Pakt anpassen und ihn unter Beachtung der Spielregeln, die Piñera
und seine Verbündeten festgelegt haben, „verbessern“ kann.
In einem
Kommuniqué des Zentralausschusses der chilenischen Kommunistischen Partei vom
20. November können wir lesen:
„(....)
Wir begrüßen und unterstützen die Kämpfe der Menschen und schätzen ebenso die
Tätigkeit und Vernetzung der Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und
Organisationen, die sich um den Tisch der sozialen Einheit (MUS) versammelt und
gemeinsam mobilisiert haben.
Wir
sind der Meinung, dass es ein schwerwiegender Fehler der Regierung war, nicht
auf ihre Vorschläge zu wirtschaftlichen und sozialen Reformen zu reagieren oder
ihre Forderungen nach Verfassungsänderungen zu berücksichtigen. Dieser Mangel
an Rücksichtnahme fand auch durch das Parlament als Institution statt.
(...)
In diesem Zusammenhang fordert die Kommunistische Partei, dass geklärt wird, ob
die Dringlichkeit zur Einschränkung der sozialen und politischen Mitwirkung
(...), durch eine vermeintliche militärische Bedrohung begründet war oder
nicht. In anderen Worten, wenn ob der Frieden durch eine Militärintervention
oder einen anderen Ausnahmezustand, einschließlich eines Belagerungszustandes, gestört
wurde. Sollte dies nicht der Fall sein, handelt es sich um eine ernsthafte
Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, politische Teilhabe und
eine Straftat gegen die Demokratie.
Nachdem
die Kommunistische Partei dies geklärt hat, was uns für die Transparenz des
laufenden Verfassungsprozesses als wesentlich erscheint, wird sie alle
Anstrengungen unternehmen, um ihn wirklich repräsentativ im Sinne der
Souveränität und Vielfalt des chilenischen Volkes zu gestalten und darüber hinauszugehen,
was im aktuellen „Abkommen“ der Parteien, die es unterzeichnet haben,
vorgesehen ist. Aus diesem Grund wird folgendes vorgeschlagen:
1. Zuallererst
muss die Wahlpflicht für das Eingangs-Plebiszit, für die Wahl des
Verfassungskonvents und für das Ausgangs-Plebiszit festgelegt werden.
2. Da
es keine Möglichkeit gibt, über das Ergebnis der Verhandlungen per
Volksabstimmung in einer Form zu entscheiden, die auch diejenigen
Formulierungen berücksichtigt, die vom Konvent nicht angenommen wurden – wie
dies in anderen Ländern bereits geschehen ist –, ist das Quorum von 2/3 zur
Zustimmung der neu eingeführten Normen sehr hoch. Deshalb sollte besser ein
3/5-Quorum mit der Möglichkeit zur Enthaltung angewendet werden.
3. Der
Konvent muss in seiner Zusammensetzung aus gleichen Teilen aus Männern und
Frauen bestehen.
4. Es
braucht Quoten für die Beteiligung indigener Völker und ein spezielles
Wählerverzeichnis zu diesem Zweck.
5. Das
Wahlrecht der Chilenen im Ausland muss gewährleistet sein.
6. Es
muss gewährleistet sein, dass Sozial- und Gewerkschaftsführer Kandidaten für
die Vertreter der einzelnen Mitgliedsstaaten sein können.
7. Öffentliche
Finanzierung von Kandidaturen, einschließlich Unabhängiger, Führungsfiguren
sozialer Bewegungen und Parteimitglieder.
8. Sondergesetz
das ermöglicht, dass alle Personen über 14 Jahren an der Abstimmung teilnehmen.
9. Die
Grundrechte müssen in der neuen Verfassung verankert und nicht daraus
abgeleitet werden. Wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt, müssen sie durch das
abschließende Referendum gelöst werden.
10. Die
bereits erzielten Fortschritte müssen gesichert und neue Räume für die
Bürgerbeteiligung in den Stadträten geschaffen werden, deren Beschlüsse der
Öffentlichkeit bekannt gegeben werden müssen.
11. Die
Kommunistische Partei erklärt, dass im Prozess der Verfassungsreform und die
dazu gehörigen Verhandlungen auf staatliche Gewalt verzichtet werden muss.
Repressionen und die weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen gegenüber den
Demonstrationen der Bevölkerung müssen vermieden werden.
12. In
der „Vereinbarung“ der Parteien, die wir nicht unterzeichnet haben, ist die
Verfassungsgebende Versammlung verworfen worden, was eine wichtige Forderung
der Bürger war und die Interessen der Mehrheit repräsentiert. Wir fordern, dass
zumindest dem Konvent jede einzelne Eigenschaft einer konstituierenden
Versammlung als Ursprung einer neuen Verfassung zugesprochen wird.
Unter
diesen Prämissen wird die Kommunistische Partei alle Anstrengungen unternehmen,
um eine möglichst weitgehende Konvergenz der Willensbildung zu erreichen, und
wird weiterhin zur Bewegung und dem Kampf der Bürger und des Volkes beitragen.[2]
Die Führung
der Kommunistischen Partei zeigt in der Tat ihre volle Bereitschaft, sich an
dem Manöver der Regierung von Piñera zu beteiligen.
Wird die
Verfassungsgebende Versammlung die Interessen der Arbeiterklasse und der
Unterdrückten durchsetzen?
Es ist klar,
welche Frage hier beantwortet werden muss: Werden sowohl die sogenannte
„verfassungsgebende Versammlung“ als auch der „Konvent“ die Interessen
durchsetzen können, die der Aufstand des einfachen Volkes in den Mittelpunkt
der politischen Auseinandersetzung gerückt hat? Wird eine parlamentarische
Versammlung mit altbekannten politischen Führern das Problem der Armutslöhne,
der Privatisierung der Renten, des Mangels an öffentlicher Bildung und
Gesundheit, an menschenwürdigen und erschwinglichen Wohnungen, der historischen
Rechte des Mapuche-Volkes lösen, oder einen Prozess der Bestrafung der für die
Unterdrückung Verantwortlichen einleiten?
Die Führung
der Bewegung hat von Anfang an den Slogan der verfassungsgebenden Versammlung
zum Mittelpunkt ihrer Agitation gemacht. Das ist keine historische Neuheit. In
den 1970er-Jahren haben die stalinistischen und sozialdemokratischen Führer
diesen Slogan während des revolutionären Kampfes gegen die Franco-Diktatur und
im April 1974 auch in Portugal genutzt. Dies war auch der Ansatz der
bolivarischen Revolution in Venezuela, des arabischen Frühlings und bei vielen
anderen vergleichbaren Anlässen.
Für die
Menschen, die ihr Leben auf den Straßen Chiles riskieren, hat dieser Slogan
natürlich einen sehr konkreten Inhalt: endgültig mit dem Status Quo zu brechen
und ihre Lebensbedingungen radikal zu verändern. Die „verfassungsgebende
Versammlung“ bietet jedoch nur einen parlamentarischen Rahmen für die „Debatte“
über die umkämpften Fragen.
Ein neues
kapitalistisches Parlament wird in keiner Weise die Natur jener
Machtverhältnisse verändern, bei denen sich die wahre Macht in den Händen einer
parasitären Oligarchie konzentriert, für die niemand gestimmt und die auch
keiner gewählt hat, und die ihre Diktatur über die Gesellschaft durch den
Besitz der Produktionsmittel und die Kontrolle des Staatsapparats ausübt. Wenn
dieses neue Parlament – was auch immer sein Name sein mag – und die neue
Verfassung die kapitalistische Ordnung anerkennt und die soziale Macht der zehn
Familien, die Chile kontrollieren, intakt lässt, wird sich für die Millionen
von Arbeitern und Jugendlichen, die heldenhaft kämpfen, nichts Wesentliches
ändern.
Die
Geschichte des Klassenkampfes hat die Debatte über die „verfassungsgebende
Versammlung“ längst gelöst. In der russischen Revolution von 1917 mobilisierten
die Bolschewiki mit diesem Slogan nicht die unterdrückte Bevölkerung. Russland
war ein viel ärmeres Land mit einer viel größeren bäuerlichen Bevölkerung als
heute Chile, Bolivien oder Kolumbien. Es war ein rückständiges kapitalistisches
Land, in dem semi-feudale soziale Beziehungen anhielten.
Die
Bolschewiki stellten den Slogan von Frieden, Brot und Land und die
Notwendigkeit der Machtübernahme durch die Arbeiter- und Bauernmassen voran, um
ein Regime der sozialistischen Demokratie aufzubauen. Das war Lenins Position:
die Kapitalisten und Grundbesitzer zu enteignen und ihren Staat zu stürzen,
indem sie ihn durch einen Arbeiterstaat ersetzen.
Die
verschiedenen Phasen, die die russische Revolution durchlaufen hat, mit all den
dazugehörigen historischen Unterschieden, teilen sehr wichtige Merkmale mit
denen, die alle nachfolgenden Revolutionen durchlaufen haben, außer dass eine
Führung wie die Bolschewiki in ihnen nicht präsent war.
In Chile
schlagen die Führer der KPC und hinter ihnen viele Organisationen, die sich als
revolutionär und sogar als „Trotzkisten“ bezeichnen, vor, dass eine
„verfassungsgebende Versammlung“, der man alle gewünschten Adjektive (frei und
souverän, frei und populär) geben kann, grundlegende Reformen durchführen kann,
die man in Wirklichkeit nur durch den revolutionären Kampf und mit den
Arbeitern an der Macht erringen kann.
Die Wahrheit
ist immer konkret; kann es im Rahmen des gegenwärtigen Kapitalismus eine
„fortschrittliche Demokratie“ geben? Werden die Bankiers, die Finanzspekulanten
und die großen Monopole ein Gramm Macht aufgeben, weil eine Verfassung, die
größtenteils von ihren Politikern verfasst wurde, auf soziale Gerechtigkeit
oder die Notwendigkeit verweist, bei der Verteilung des Reichtums gerechter zu
sein? Natürlich nicht! Die gesamte Geschichte leugnet diesen Utopismus.
Wenn der
Bourgeoisie nicht wirklich ihre Macht entzogen wird, ist es ein völliger
Irrtum, von fortschrittlichen Reformen zu sprechen, die den Menschen
zugutekommen.
Einige mögen
sagen, dass sie den Slogan der „verfassungsgebenden Versammlung“ anwenden, weil
das „Bewusstsein“ nicht weit genug ist. Sie werden von ultralinken Tendenzen
sprechen um die marxistische Position abzulehnen und erklären, dass die
Arbeiterklasse und Jugend nicht reif genug sind, um ein
revolutionär-marxistisches Programm zu akzeptieren. Kurz gesagt, sie bleiben
bei der alten Ausrede: Sozialismus gestern, Sozialismus morgen, aber nie
heute.
Die Realität
widerlegt ihre Argumente. Die Massen in Chile stehen weit links von ihrer
Führung, und das haben sie in jedem der entscheidenden Momente dieser
revolutionären Krise gezeigt. Es ist nicht wahr, dass die Arbeiter und
Jugendlichen den Kapitalismus aufrechterhalten wollen. Sie wissen instinktiv,
denn ihre Erfahrung hat es gezeigt, dass darin das eigentliche Problem liegt.
Aber ihre Führer tun alles Mögliche, um den Kampf in Richtung Parlamentarismus
umzulenken, indem sie auf alle möglichen Argumente und Erpressungen zurückgreifen,
einschließlich eines möglichen Militärputschs.
Die Drohung
eines Staatsstreichs wird von den Führern der Sozialistischen Partei, aber auch
von der KPC und der CUT als oberstes Argument dafür angeführt, nicht „weiter zu
gehen“ und einen Pakt mit Piñera einzugehen. In einem offiziellen Kommuniqué
der PS heißt es, dass die Verlängerung der Krise „die Grundpfeiler des
demokratischen Lebens erschüttert und gewaltsame Ausschweifungen in Richtung
autoritärer Abenteuer und gefährlichen Populismus wahrscheinlicher macht (...).
Die demokratische Linke muss einen entscheidenden ideologischen, kulturellen
und politischen Kampf gegen diese Bedrohung führen, die den Weg für eine
Reaktion aller Art ebnen könnte: für die Errichtung eines diktatorischen Regimes,
das ein verwüstetes Chile „befriedet“, das wehrlos dasteht angesichts eines von
beiden Seiten des politischen Spektrums geführten Krieges.“
Dies ist die
gleiche Argumentation, die die Führer der Unidad Popular 1973 verwendeten. Mit
dem Verzicht auf die Vollendung der chilenischen Revolution durch Enteignung
der Bourgeoisie und im Vertrauen auf vermeintlich verfassungstreue Militärs -
wie General Pinochet - versuchten sie, Vereinbarungen mit einer vermeintlich
„patriotischen“ Bourgeoisie zu treffen, würgten die fortschrittlichsten
Teile der Arbeiterklasse politisch ab und weigerten sich, das Volk zu
bewaffnen, obwohl sie genau wussten, dass der Militärputsch im Gange war.
Das Ergebnis
dieser „Strategie“ wurde nicht nur mit dem Blut von Präsident Allende bezahlt,
sondern auch mit dem Blut der besten Teile der Jugend, der Arbeiter und linken
Aktivisten.
Gerade um
jeden Versuch eines Militärputsches zu verhindern und die Interessen des Volkes
durchzusetzen, braucht es in Chile eine revolutionäre Politik, die der
Arbeiterklasse ihre gewaltige Macht bewusst macht und sie mobilisiert, um
vereint die Regierung zu stürzen.
Während die
Bourgeoisie davon spricht, „die Verfassung zu reformieren“, rüstet sie ihren
Repressionsapparat auf, um die Bewegung zu zerschlagen, sobald die Bedingungen
günstiger sind. Nicht umsonst kündigte Piñera am 7. November die Einführung
einer neuen „Sicherheitsagenda“ an, die die „Wirksamkeit der Strafverfolgung“
gegen die „Barrikaden und die Behinderung der Freizügigkeit“ stärken soll;
Schaffung rechtlicher Möglichkeiten für die Kriminalisierung und Verfolgung von
„öffentlichen Unruhen“, Schaffung eines speziellen Spionage- und
Infiltrationskorps zur Verhütung von „Straftaten“, und Straffreiheitsgarantie
für die Repressionskräfte („Statut zum Schutz der Ordnungs- und
Sicherheitskräfte“).
Die
Forderung nach der Verfassungsgebenden Versammlung streut den Unterdrückten nur
Sand in die Augen, um sie vom zentralen Ziel abzulenken. Und falls es gelingt,
die Erwartungen an den Wandel auf diese zu konzentrieren, würde das bedeuten,
den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von der Straße wegzunehmen (dem einzigen
wirklichen Motor jeder wirklichen Transformation) und ihn an ordnungsgemäß
geschaffene bürgerliche Institutionen zurückzugeben.
Chile
befindet sich an einem Wendepunkt. Es ist notwendig, mit der versöhnlichen
Politik zu brechen, die wie ein lähmendes Betäubungsmittel wirkt, und eine
Arbeiterpartei mit einem revolutionären Programm aufzubauen. Die Bedingungen,
um der Piñera-Regierung ein Ende zu setzen, mit dem kapitalistischen System und
seinem Regime der Ungleichheit und Repression zu brechen, und zu beginnen, das
Leben von Millionen von Jugendlichen und Arbeitern wirklich zu verändern, sind
gegeben.
Das Gebot
der Stunde ist, die entfesselte Bewegung voranzutreiben und ihr eine
revolutionäre Form zu geben. Den unbefristeten Generalstreik - mit Besetzungen
von Betrieben und Schulen - und den Selbstschutz von Arbeitern und Jugend
organisieren, einen starken Appell an die Soldaten richten, das Volk nicht zu
unterdrücken, Komitees in den Kasernen zu bilden, Befehle der Kommandanten
nicht auszuführen und sich den Massenmobilisierungen anzuschließen.
Bei dieser
Strategie ist es von grundlegender Bedeutung, die Räte und Volksversammlungen
auszuweiten und Aktionskomitees in allen Fabriken, Betrieben,
Bildungseinrichtungen, Wohnvierteln zu fördern ... Diese Organe müssen auf
nationaler Ebene koordiniert werden durch wähl- und abwählbare Delegierte in
einer revolutionären Versammlung, die eine Arbeiterregierung wählt, um mit dem
kapitalistischen Regime zu brechen.
Der
Kampfplan muss einhergehen mit einem klaren Programm: Verstaatlichung der
Banken, der Monopole und des Bodens, ohne Entschädigung und unter
demokratischer Kontrolle der Arbeiter und ihrer Organisationen. Würdige und
kostenlose öffentliche Bildung und Gesundheitsversorgung für alle. Würdige
Löhne und sichere Arbeitsplätze. Recht auf bezahlbaren öffentlichen Wohnraum.
Würdige, 100% staatliche Rente und Schluss mit privaten Rentenfonds.
Sofortige
Säuberung von Faschisten aus Armee, Polizei und Justiz: Prozess und Bestrafung
für die Verantwortlichen für die Unterdrückung und die Verbrechen der Diktatur.
Alle Rechte für das Volk der Mapuche. Für die Sozialistische Föderation
Lateinamerikas!
Die
chilenische Arbeiterklasse und Jugend knüpfen an die Geschichte an, indem sie
ihre revolutionären Traditionen offenbaren. Ihr Triumph wird der Triumph aller
Arbeiter und Unterdrückten der Welt sein, der den Weg für den Sieg des
internationalen Sozialismus ebnet.
Revolution
und Konterrevolution in Lateinamerika. Das Beispiel Bolivien
Die Lehren aus
den Ereignissen in Chile können in gleicher Weise auf Ecuador, Bolivien oder
Kolumbien angewendet werden.
In Ecuador
kippte ein Aufstand von Arbeitern und Bauern das Gesetzespaket der reaktionären
Regierung von Lenín Moreno. Konfrontiert mit der gewaltsamen Repression, setzte
der Generalstreik das Land in Brand, begleitet vom Aufkeimen von Arbeiter- und
Bauernmacht in verschiedenen Städten. Trotzdem wurde der Kampf vorläufig
abgebrochen, als dessen Führer, insbesondere die Führer der CONAIE, sich mit dem
Rückzieher der Regierung und der Zurücknahme des Dekrets 883 zufrieden gaben.
All dies hat
weder dazu geführt, dass Lenín Moreno zurücktritt, noch dass seine Verbrechen
oder die Verantwortlichen für die Repression verurteilt wurden. Im Gegenteil,
die Zugeständnisse der Führer der Bewegung, als alle Bedingungen gegeben waren,
um weiter voranzuschreiten und dem Regime eine durchschlagende Niederlage
beizubringen, hat es der Bourgeoisie erlaubt, Atem zu holen. Wir erleben eine
Zunahme der autoritären Maßnahmen, mit der Verhaftung zahlreicher Aktivisten
und der Kriminalisierung der sozialen Bewegungen und kämpferischsten
Organisationen. Offensichtlich war dies nur ein Kapitel eines Krieges, der
offen bleibt und bald wieder ausbrechen wird.
Im Falle
Boliviens haben die Arbeiter und Bauern ein außergewöhnliches Beispiel von
Klasseninstinkt, revolutionärem Bewusstsein und dem Willen zum Kampf gegen den
von der Oligarchie und dem US-Imperialismus organisierten Putsch gegeben. Das
einzige, was sie daran gehindert hat, die Putschisten zu besiegen, war das
Fehlen einer Führung auf der Höhe der Situation.
Evo Morales
und die Führer von Movimiento Al Socialismo (MAS), die Bolivien in den letzten
14 Jahren regiert haben, verzichteten nicht nur darauf, den Widerstand gegen
den Putsch anzuführen: Sie waren die Ersten, die das Schlachtfeld verlassen
haben und aus dem Land geflohen sind oder die Massen zum Rückzug aufgerufen
haben. Schließlich haben dieselben "Führer" ein schändliches Abkommen
mit der Putschistenregierung von Jeanine Áñez geschlossen, die für die
Ermordung von 33 Menschen und für mehr als 800 Verletzte seit ihrer
betrügerischen Machtübernahme verantwortlich ist.
Am 23.
November verkündete Áñez den Pakt mit der Bürokratie von Central Obrera
Boliviana (COB) und 73 anderen Führungskräften verschiedener sozialer
Organisationen, von denen die große Mehrheit mit MAS verbunden ist. Das
Abkommen wurde am nächsten Tag im Kongress und im Senat mit den Stimmen der
Senatoren und Abgeordneten von MAS ratifiziert, mit klarer Mehrheit in beiden
Kammern.
Diese
Kapitulation, die unterzeichnet wurde, während die Arbeiter und Bauern noch mit
der Repression zu kämpfen hatten, erfüllt alle Kernpunkte, die die Putschisten
interessierten: Sie annulliert die Präsidentschaftswahlen vom 20. Oktober und
verhindert, dass Morales und sein Vizepräsident García Linera bei den Neuwahlen
antreten können, und vor allem verpflichtet sie alle von der MAS geführten oder
beeinflussten Arbeiter- und Bauernorganisationen, zur Demobilisierung
aufzurufen, indem sie in der Praxis die Legitimität der konterrevolutionären
Regierung anerkennen.
Die
Bürokratien von COB und MAS haben mit ihrer Kapitulation das erreicht, was die
Oligarchie mit ihrer Repression nicht erreicht hatte: den sich im ganzen Land
ausbreitenden Aufstand zu stoppen und die mörderische Regierung von Áñez
abzusichern. Damit ebnen sie den Weg für die Pläne der Oligarchie und des
US-Imperialismus, die bereits alle Mechanismen in Gang gesetzt haben, um ihren
Sieg bei den nächsten Wahlen zu garantieren.
Nach allem,
was passiert ist, müssen wir uns immer noch anhören, wie die reformistischen
und stalinistischen Führer der lateinamerikanischen und internationalen Linken
Morales' „Verantwortung“ als einzige Möglichkeit anpreisen, „Gewalt und
Blutvergießen zu verhindern“. Und was ist in Bolivien passiert – und passiert
weiter –, seit der Machtübernahme der Putschistenregierung, durchgesetzt
mit der Unterstützung der USA, der Bestätigung durch die EU und dem
mitschuldigen Schweigen der internationalen Sozialdemokratie, außer Gewalt
gegen das Volk?
„Man hätte
nichts anderes tun können“, „es gab nicht genügend Stärke oder Bewusstsein.“
Aber hat das etwas mit der Realität zu tun? Nein und tausendmal nein! Das
Schlimmste am schändlichen Einknicken von Morales und den Führern von MAS und
COB ist, dass sie es genau in dem Moment taten, als sich der Aufstand der
Arbeiter und Bauern, trotz der Weigerung dieser Führer, ihn zu fördern, von El
Alto und Cochabamba, den ersten Epizentren des Widerstands, auf viele andere
Gebiete des Landes ausbreitete, selbst nach Santa Cruz de la Sierra (von wo aus
die Putschisten ihre Offensive begonnen hatten), und Spaltungen in der Armee
erzeugte.
Eine
Strategie, die die Komitees, Räte und Versammlungen auf ganz Bolivien
ausgedehnt hätte, mit der Schaffung von Volksmilizen gegen die faschistischen
Banden und gegen Polizei und Armee, hätte es nicht nur erlaubt, den Putsch zu
besiegen, sondern auch eine revolutionäre Regierung der Arbeiter und des Volkes
durchzusetzen. Nicht der Mut und die Tapferkeit der Bauern und Arbeiter sind
gescheitert, sondern die Politik der Lähmung und des Rückzugs einer völlig
degenerierten Führung.
Alle „Argumente“ dieser demoralisierten Führer, die sich der Verteidigung
der Privilegien verschrieben haben, die ihre Parlamentssitze, öffentlichen
Ämter oder Gewerkschaftsposten ihnen verschaffen, beschränken sich auf die
zutiefst reaktionäre Vorstellung, es sei das Handeln der Massen auf der Straße,
das die Repression der herrschenden Klasse provoziert. Demnach ist die Lösung,
um diese Repression zu mildern oder zu stoppen, den Kampf aufzugeben. Würden
die Sklaven diese Ideen übernehmen, dürften sie niemals den Weg ihrer Befreiung
in Angriff nehmen.
Die
Arbeiterklasse und das Volk Boliviens haben durch die Politik ihrer Führer
einen schweren Rückschlag erlitten, aber sie wurden nicht besiegt. Sie bewahren
mächtige revolutionäre Traditionen, die nicht verloren gegangen sind und noch
stärker wieder zu Tage treten werden, wenn die Zeit reif ist.
Tausende von
Kämpfern haben Lehren aus den Erfahrungen der letzten Jahre gezogen und setzen
sie in den aktuellen Entwicklungen in die Praxis um. In Kolumbien wurde die
Duque-Regierung von dem bedeutendsten Generalstreik seit Jahrzehnten und einer
Massenbewegung überrascht, die der Oligarchie einen schweren Schlag versetzt
hat. Bolsonaro hat vorübergehend auf seine aggressivsten Konterreformen
verzichtet, weil er ein Überschwappen der Bewegung fürchtet. Aber es ist nur
eine Frage der Zeit, bis ähnliche Vorgänge in Brasilien, dem Land mit dem
mächtigsten Proletariat der Region, oder im Argentinien von Alberto Fernández
ausbrechen.
Die
Bourgeoisie dachte, sie hätte die Situation in Lateinamerika, Afrika, dem Nahen
Osten und dem Rest der Welt unter Kontrolle. Aber der Klassenkampf hat einen
Schlag nach dem anderen gesetzt, um deutlich zu machen, dass dies nicht der
Fall ist.
Eine Welt in
Aufruhr
Die
kapitalistische Welt befindet sich in einem allgemeinen Umbruch, der in vielen
seiner Merkmale mit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vergleichbar ist.
Der Kampf
zwischen den imperialistischen Mächten um die Kontrolle von Märkten,
Einflussbereichen und Rohstoffen sowie der Handelskrieg zwischen den beiden
Großmächten, die um die Welthegemonie kämpfen, haben sich nur weiter
verschärft.
Die
internationalen Beziehungen sind durcheinander geraten: Allianzen lösen sich
auf, angeschlagen von der Rezession und dem weltweiten Klassenkampf. Die
stabilen Blöcke der Vergangenheit sind verschwunden. Der Brexit setzt ein
großes Fragezeichen über die Zukunft der Europäischen Union und drückt den
alten Kontinent weiter in eine untergeordnete Position.
Die
militärischen Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten, die ganze
Länder in einen Zustand der Barbarei zurückwerfen und den Tod von
Hunderttausenden unschuldiger Menschen, den Exodus von Millionen von
Flüchtlingen und eine neue Balkanisierung des Planeten verursachen, zeigen den
völlig reaktionären Charakter eines Systems im Niedergang auf.
Die tiefe
Krise des Parlamentarismus, die Delegitimierung der Sozialdemokratie und der
traditionellen konservativen Parteien, die Spaltung der herrschenden Klasse, in
einem Land nach dem anderen, sowie die bonapartistischen und autoritären
Tendenzen zahlreicher Regierungen zeigen, dass die
„demokratischen“ Herrschaftsformen der Bourgeoisie bröckeln. Das innere
Gleichgewicht des kapitalistischen Systems hat sich in Luft aufgelöst.
Krisenzeiten
markieren den Stabilitätsverlust der mittleren Schichten und ihre virulenten
Ausschläge nach links und rechts. Der Aufstieg der Ultrarechten und die Bildung
reaktionärer und nationalistischer Regierungen spiegeln diesen Prozess der
enormen Polarisierung wider, aber auch das Scheitern der Sozialdemokratie und
der neuen Organisationen, die sich an die bürgerliche Demokratie klammern.
Rassismus,
nationale Unterdrückung oder Gewalt gegen Frauen sind tief in der Ideologie der
kapitalistischen Parteien verankert. Die populistischen und ultrarechten
Organisationen tun nichts anderes als all die reaktionären Einstellungen und
Vorurteile auszunutzen, die die „demokratische“ Rechte, mit der Duldung und
Beteiligung der Sozialdemokratie, zuvor normalisiert hat.
Die Antwort
der reformistischen Neuen Linken ist genauso schwach wie der alte
sozialdemokratische Diskurs. Für die Führer von Podemos, Syriza, Die Linke,
Bloco de Esquerda und anderen ist der beste Weg, um den Durchmarsch der
Reaktion zu stoppen, das Vertrauen in das gute Funktionieren des
Parlamentarismus. Aber es ist gerade die Unfähigkeit der kapitalistischen
„Demokratie“, die Krise zu lösen, der gleichen „Demokratie“, die die Großbanken
rettet und die Kürzungen und Austeritätspolitik verteidigt, welche die
objektiven Bedingungen für eine Rückkehr zum reaktionären Nationalismus
schafft.
Gegenüber
den leeren Appellen, die die Reformisten aller Couleur anbieten, stellen wir
Marxisten ein Aktionsprogramm auf, basierend auf der Mobilisierung und Einheit
der Arbeiterklasse über "Rassen" und Grenzen hinweg, das soziale
Forderungen (Wohnen, öffentliche Gesundheit und Bildung, würdige Löhne und
Arbeitsbedingungen, Schutz und Verteidigung der Rechte von Einwanderern, usw.)
und demokratische Forderungen (Aufhebung aller in den letzten Jahren verhängten
bonapartistischen und autoritären Gesetze, Säuberung der faschistischen
Elemente aus dem Staatsapparat, Recht auf Selbstbestimmung, usw.) verbindet,
zum Kampf gegen das System und für die sozialistische Transformation.
Obwohl der
Aufschwung der Ultrarechten bei Wahlen eine ernste Warnung ist, ist er nicht
mit dem Phänomen des Faschismus der 1930er Jahre vergleichbar, der eine
organisierte Massenbewegung hatte und nach entscheidenden Niederlagen der
Arbeiter triumphierte. Die soziale und Wähler-Basis dieser Formationen ist
nicht so gefestigt, wie es scheint, und die - lateinamerikanische, europäische
und weltweite - Arbeiterklasse ist noch weit davon entfernt, ihre Kraft und ihr
Potential, die Gesellschaft zu verändern, ausgeschöpft zu haben.
Der Kampf um
die Revolutionäre Partei
Die
parlamentarische Repräsentation einer unterdrückten Klasse liegt deutlich unter
ihrer wirklichen Stärke. Noch vor kurzem rühmte sich Piñera damit, Chile als
„Oase“ der Demokratie und Stabilität zu präsentieren. Dasselbe sagte die
internationale Presse nach Macris Triumph im Jahr 2015 über Argentinien,
während die Reformisten und Sektierer den „Rechtsruck“ auf dem Kontinent
ausriefen.
Die
klassischen Bedingungen einer Revolution haben sich in den Aufständen, die wir
erleben, gezeigt: Spaltungen in der herrschenden Klasse, die Entschlossenheit
der Unterdrückten, der Arbeiter und der Jugend, den Kampf bis zu Ende zu führen
und ihr Leben zu opfern, Neutralität oder sogar Unterstützung der
Mittelschichten für die aufständische Bevölkerung ... Aber das Wichtigste von
allem fehlt: eine revolutionäre Partei, bewaffnet mit dem Programm des
Marxismus und mit Einfluss unter den Massen.
In den
großen Kämpfen fragt ein Revolutionär nicht, was im Falle einer Niederlage
passieren wird. Er fragt, was getan werden muss, um den Sieg zu erringen. Es
ist möglich, es ist erreichbar, deshalb muss es getan werden. Die konkrete
Aufgabe besteht darin, im Laufe dieser Ereignisse die Illusionen, die
reformistische Führer in kosmetische politische Reformen schüren, in eine
massive Unterstützung für ein Programm für die sozialistische Transformation zu
verwandeln.
Das durch
die Krise der sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien entstandene
Vakuum wurde teilweise von einer eigenartigen, schwachen und schwankenden Form
des „linken Reformismus“ gefüllt, der seine organische Beschränktheit bewiesen
hat. „In der Natur und in der Gesellschaft“, schrieb Lenin, „gibt es keine reinen
Phänomene und kann sie nicht geben.“
Indem sie
mit schwindelerregender Geschwindigkeit ihr eigenes Programm aufgab, sobald sie
Parlaments- und Regierungsposten erobert hatte, hat diese neue reformistische
Linke die Ambitionen breiter Teile ihrer sozialen Basis massiv enttäuscht.
Syriza, und
jetzt Podemos, sind ein guter Beweis dafür, was wir sagen. Beide Formationen
entwickelten sich dank der Unterstützung von Hunderttausenden von jungen
Menschen, Arbeitern und Aktivisten. Aber ihre Reihen speisten sich auch aus
zahlreichen Karrieristen, die ihrem Programm und ihrer politischen Praxis den
klassenübergreifenden und abgeschwächten Charakter verliehen. Es ist der
unverkennbare Stempel des Kleinbürgertums, das die Führung der sozialen
Mobilisierung und der von ihr geschaffenen Organisationen übernimmt. Eine reine
politische Enteignung, die sich unverändert in allen Epochen und Situationen
wiederholt.
Die
Professoren und gebildeten Jugendlichen, Journalisten, Anwälte und
ihresgleichen - viele von ihnen ausgeschlossen in der aktuellen Verteilung der
institutionellen und wirtschaftlichen Macht - übernehmen die Kontrolle über die
Massenbewegung und schieben die Arbeiter beiseite, verkünden ihre Abneigung
gegen das kollektive Handeln der Klasse und rufen einen Kult der Individualität
aus, der so verachtenswert ist wie ihr maßloses Ego.
Mit ihrer
„außergewöhnlichen Bildung“ versuchen sie zu zeigen, dass die bürgerliche
Ordnung durch geschickte Nutzung von Parlamenten und Regierungen von innen
heraus verändert werden kann. Aber die herrschende Klasse lacht sich kaputt
über diese dummen Illusionen.
Diese
Formationen sind auch der Preis für die Schwäche, mit der die Kräfte des
revolutionären Marxismus in diese neue historische Periode eingetreten sind.
Wir müssen jedoch betonen, dass diese Parteien als Folge der brutalen
Auswirkungen der wirtschaftlichen und sozialen Krise, der Delegitimierung der
Institutionen und der Sehnsucht nach einem revolutionären Ausweg entstehen, den
weite Teile der Arbeiter, der Jugend und der verarmten Mittelschichten fordern.
Die Bewegung hat ihr eigenes Werkzeug erschaffen, nachdem sie es in ihren
traditionellen Massenorganisationen versucht hat.
Dies zu
berücksichtigen ist unerlässlich, um sich richtig zu orientieren und nicht in
Sektierertum zu verfallen. Die marxistische Theorie behält ihre ganze
Gültigkeit, wenn sie sagt, dass die reformistischen Führungen der
Arbeiterbewegung kein mechanisches Spiegelbild der politischen Reife der Klasse
sind.
„Nur die
'Vulgärmarxisten'“, schreibt Trotzki, „die annehmen, daß Politik die reine und
direkte „Widerspiegelung“ der Ökonomie ist, können glauben, daß die Führung die
Klasse direkt und einfach widerspiegelt. In Wirklichkeit gibt die Führung, die
sich über die unterdrückte Klasse erhob, unvermeidlich dem Druck der
herrschenden Klasse nach. (...)Die Auslese und die Erziehung einer
wirklich revolutionären Führung, die dem Druck der Bourgeoisie standhalten
kann, ist eine außerordentlich schwierige Aufgabe. Die Dialektik des
historischen Prozesses drückte sich selbst am glänzendsten darin aus, daß das
Proletariat des rückständigsten Landes, Rußlands, unter bestimmtem historischen
Bedingungen, die weitsichtigste und mutigste Führung hervorbrachte. Dagegen hat
das Proletariat in dem Land der ältesten kapitalistischen Kultur,
Großbritannien, auch heute noch die dümmste und kriecherischste
Führung. (...) All die verschiedenen Arten der ernüchterten und
entmutigten Vertreter der Pseudomarxisten gehen dagegen von
der Annahme aus, daß der Bankrott der Führung nur die Unfähigkeit des
Proletariats „widerspiegelt“, seinen revolutionären Auftrag zu erfüllen. Nicht
alle unsere Gegner bringen diesen Gedanken klar zum Ausdruck, aber alle –
Ultralinke, Zentristen, Anarchisten, ganz zu schweigen von den Stalinisten und
Sozialdemokraten – schieben die Verantwortung für die Niederlagen von sich
selbst auf die Schultern des Proletariats.“[3]
Die
Notwendigkeit der revolutionären Partei ergibt sich aus der Tatsache, dass die
Arbeiterklasse und Jugend nicht mit einem fertigen Verständnis ihrer
historischen Interessen geboren werden. Daher besteht die Aufgabe der Partei
darin, aus den Erfahrungen des realen Klassenkampfes zu lernen, energisch in
ihn einzugreifen und den Unterdrückten und vor allem der Avantgarde der
Arbeiter und Jugend zu zeigen, dass sie würdig ist, ihre Führung zu übernehmen.
In jedem
einzelnen der Klassenkampfprozesse, die wir gerade erleben, sei es in den
großen Klima-Mobilisierungen, in der Massenbewegung der proletarischen Frauen,
in den Erhebungen und Aufständen, die die Welt durchziehen, tritt die Jugend
als Speerspitze der Bewegung auf. Dieses Phänomen ist bedingt durch die
Erneuerung, die die Arbeiterklasse weltweit erfahren hat, mit der neuen
historischen Phase der neoliberalen Konterreformen und dem Verlust der
politischen Autorität der traditionellen, sowohl politischen als auch
gewerkschaftlichen, linken Formationen. Es ist eine strategische Aufgabe, diese
Sektoren zu erreichen, um sie für die Truppen des internationalistischen
Sozialismus zu gewinnen.
Es ist klar,
dass das wahre Programm des Marxismus vor tausenden Aktivisten in Folge des
Zusammenbruchs des Stalinismus, der Lügenkampagnen und Falschdarstellungen der
Bourgeoisie und der Politik der Reformisten verzerrt erscheint. Und diese
Verwirrung wird genährt durch die Vorurteile, die die kleinbürgerlichen Führer
der neuen Organisationen der parlamentarischen Linken verbreiten.
Teil einer
marxistischen Partei zu sein, die für die Arbeitermacht kämpft, kollidiert mit
dem Individualismus des radikalisierten Kleinbürgertums. Das abstoßende
Beispiel, das die Degeneration der gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen und
ehemaligen stalinistischen Bürokratie darbietet, erzeugt ebenfalls
Schwierigkeiten für den revolutionären Kampf. Aber es ist nicht weniger wahr,
dass vor Jahrzehnten weitere gewaltige Hindernisse errichtet wurden, als es
große Arbeiterparteien mit genügend Autorität und Einfluss gab, um Revolutionen
im Namen des Sozialismus anzustoßen, indem sie eine ganze Generation von
Kämpfern falsch ausgebildet haben.
Wir
Marxisten sind Optimisten, weil wir uns auf die Dynamik der Geschichte stützen.
Die Produktivkräfte der Welt brauchen ein neues soziales System, um sie
harmonisch zu organisieren und zu planen. Aber der Sozialismus wird nicht vom
Himmel fallen; er kann nur das Ergebnis des bewussten Handelns der
Arbeiterklasse und Jugend zum Sturz des kapitalistischen Systems sein.
Im Übergangsprogramm,
geschrieben in einer außergewöhnlichen objektiven Lage, zeigte
Trotzki eine tiefe Einsicht, die heute mehr denn je zutrifft:
„Das
ganze Gerede, wonach die geschichtlichen Bedingungen noch nicht „reif“ genug
seien für den Sozialismus, ist nur das Produkt der Unwissenheit oder eines
bewußten Betrugs. Die objektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution
sind nicht nur schon „reif“, sie haben sogar bereits begonnen zu verfaulen.
Ohne sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen
Periode, droht die ganze menschliche Kultur in einer Katastrophe unterzugehen.
Alles hängt ab vom Proletariat, d. h. in erster Linie von seiner
revolutionären Vorhut. Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen
auf die Krise der revolutionären Führung.“[4]
Wir erleben
eine Epoche von Revolution und Konterrevolution, und es gibt keine Zeit zu
verlieren.
Schließ Dich der Internationalen Revolutionären Linken
an!