Fyn Hansow, Offensiv (Hamburg)
Die Kraft einer Massenbewegung
Anfang des
Jahres 2019 hat der Vorschlag eines „Auslieferungsgesetzes“ im Legislativrat
der Special Administration Region (SAR) Hongkong, formal
Teil Chinas aber unter einer anderen Gesetzgebung, die grundsätzliche
demokratische Rechte garantiert, die Wut der Massen entfacht. Das Gesetz würde
den Transfer von Gefangenen zwischen Taiwan, Hong Kong, Macau und
Festland-China ermöglichen.
Das Ziel der
Regierung unter Chief Executive Carrie Lam war klar: Die Auslieferung
politischer Gefangener, vor allem derer, die nach der Niederlage der „Umbrella
Revolution“ 2014 verfolgt wurden, nach Festland-China zu ermöglichen, wo sie
Opfer noch härterer Urteile, von Folter oder mysteriösem „Verschwinden“ werden
könnten. Eine zentrale Demonstration gegen dieses Auslieferungsgesetz am 9.
Juni brachte mehr als eine Million auf die Straße. Das öffnete eine neue
Dynamik und gab den kämpferischsten Teilen, vor allem der desillusionierten
Jugend - eine Generation, geformt durch die Erfahrungen der längsten Besetzung
einer modernen Großstadt im Jahr 2014 -, neues Selbstbewusstsein. Der
Regierungssitz wurde blockiert und die Polizei reagierte mit brutaler Gewalt
und verletzte einige junge Demonstranten schwer. Carrie Lam versuchte die
Situation zu beruhigen aber die Protestierenden waren zu allgemeineren
Forderungen übergegangen und forderten ihren Rücktritt. Eine neue Demonstration
versammelte zwei Millionen, in einer Stadt mit nur sieben Millionen Einwohnern,
Wochen des Protests folgten und das Auslieferungsgesetz wurde von der Regierung
als „tot“ verkündet.
Heute ist
Carrie Lam immer noch an der Spitze der Regierung, ohne irgendeine soziale
Basis als bloße Marionette in den Händen ihrer Meister in Peking, wie sie sogar
selbst in einer veröffentlichten Konversation zugegeben hat. Peking zeigt sich
vorsichtig und verfolgt eine Strategie der schrittweisen Eskalation. Seit das
Jubiläum der chinesischen Revolution am 1. Oktober die bislang heftigsten
Zusammenstöße zusammen mit der Verwendung scharfer Munition gegen Demonstranten
gebracht hat, sind Notstandsgesetze und ein komplettes Aussetzen des
U-Bahnverkehrs angewandt worden. Armeefahrzeuge können in den Straßen gesehen
werden und die Zahl derer, die „Selbstmord“ begangen haben oder Opfer von
„Unfällen“ geworden sind liegt in den Dutzenden. Spontane Angriffe auf
Polizeistationen, Zerstörung von U-Bahnhaltestellen und Banken und
Straßenblockaden sind Alltag.
Am
Wochenende des 19. Und 20. Oktober sind erneut Zehntausende Demonstrierende auf
die Straße gegangen und haben einem Polizeiverbot widerstanden, nachdem der
bekannte Sprecher der Protestgruppe „Civil Human Rights Front“, Jimmy Sham, von
einem Mob bewaffnet mit Hämmern im hellsten Tageslicht angegriffen wurde. Die
Wut gegen die Regierung ist weit davon entfernt, beruhigt zu sein.
Tiefgreifende
Wut
Das
Auslieferungsgesetz war nur die Spitze des Eisbergs. Wut hat sich in Hongkong
während der letzten Jahrzehnte angestaut und sich im Ansteigen und Absinken von
Kämpfen ausgedrückt, von den Massenkämpfen gegen die koloniale Unterdrückung
der 90er bis zur Umbrella Bewegung und heute. Sogar bürgerliche „Ökonomen“
mussten zugeben, dass dies nicht aus dem Nichts sondern aus klaren Bedingungen
kommt: unter dem Einfluss des freien Marktes und des zügellosen Finanzkapitals
sind die Wohnkosten seit 2003 um mehr als 300% gestiegen während die Löhne
stagniert sind und Hongkong ist heute eine der teuersten Städte weltweit. Oxfam
hat die Ungleichheit in Hongkong als die größte von allen „entwickelten“
Ländern und Städten bezeichnet.
Während die
Verteidigung der demokratischen Rechte, welche durch den SAR Status garantiert
werden, ohne Zweifel eines der Hauptziele der Bewegung ist, sind diese in der
aktuellen Situation schon ein schlechter Witz. Arbeitszeiten sind im
Durchschnitt zwischen 50 und 60 Stunden die Woche, Gewerkschaftsaktivisten
werden regelmäßig gekündigt und Demonstranten, die in der Umbrella Bewegung
teilgenommen haben, haben Gefängnisstrafen von bis zu neun Jahren bekommen und
das ganz ohne nach Festland-China ausgeliefert werden zu müssen. Die Regierung
Hongkongs wird vom Big Business, den „Wohnraum-Tycoons“ und der
„kommunistischen“ Partei Chinas gewählt. Als sie mit Gerüchten über einen
möglichen pro-Peking Nachfolger Carrie Lams konfrontiert wurden, haben
Protestierende verkündet, dass sie keine Regierung akzeptieren würden, die
nicht frei und richtig gewählt wurde.
Die
Führungen der Organisationen, die an der Spitze dieses Kampfes in der
Vergangenheit standen, haben keine Perspektiven und keinen Willen, um diesen
Kampf zu einem generellen gegen die Wurzel von Ungleichheit und Ungerechtigkeit
zu machen: gegen das kapitalistische und imperialistische System.
Im Angesicht
der nationalen Unterdrückung der „kommunistischen“ Partei, die in Wirklichkeit
einen imperialistischen Block im Kampf um Marktanteile repräsentiert, sind die
„Pan-Demokraten“ in Hongkong bei bloßen Forderungen nach mehr Sitzen im Legislativrat
oder der Garantie der Wahlfreiheit stehen geblieben und die
Gewerkschaftsbürokratie der „Hong Kong Federation of Trade Unions“ hat die
Streikaktionen der Massen ebenso gefürchtet wie die Regierung und einen
Generalstreik einen Tag vorher abgesagt.
Es ist die
Arbeiterklasse Hongkongs, die trotz all dieses Verrats ihrer eigenen Führung
immer und immer wieder die richtigen Instinkte bewiesen hat, die am Beginn der
Massenbewegung Streiks in die Diskussion gebracht und diese in mehr als 100
Firmen durchgeführt hat. Die kämpferischsten Sektoren, wie die Arbeiter der
Airline Cathay oder das Flughafenpersonal generell, die Angestellten von Banken
wie HSBC und die Arbeiter des öffentlichen Sektors haben eine Schlüsselrolle
darin gespielt, Millionen von Menschen im Verlauf von mehr als 20 Wochen zu
mobilisieren und haben in Folge dessen Kündigungen und Repressionen
widerstanden. Jeder, der noch von der Passivität der Arbeiterklasse redet,
sollte einen genauen Blick auf diese Ereignisse werfen.
Die
traditionellen Parteien des Kampfes für mehr Demokratie in Hongkong sind in
vollem Rückzug, unfähig, auch nur offiziell zu der Demonstration am Jahrestag
der chinesischen Revolution aufzurufen, was stattdessen von Einzelpersonen
gemacht werden musste. Dieses Vakuum wurde bisher durch spontane Aktionen und
Online-Organizing durch Apps wie Telegram, kombiniert mit Bruce Lees Maxime „Be
like water“ gefüllt. Das kann kurzfristig funktionieren aber birgt die Gefahr
der Verdrängung der aktiven Rolle der Arbeiterklasse durch kleinbürgerliche
Taktiken wie individuelle Gewalt oder Aktionen von Kleingruppen. Aus diesem
Grund muss die Führung von einer wahren revolutionären Partei, die auf eben
dieser Rolle der Arbeiterklasse aufbaut, aufgenommen werden.
Was tun?
Es ist
offensichtlich, dass die herrschende Klasse Hongkongs, aber auch des mit China
rivalisierenden imperialistischen Blocks USA, bis zu einem gewissen Grad die
Interessen der Bewegung teilen. Hongkong ist ein Finanzzentrum und der
Zugangspunkt des internationalen Kapitals in das neoliberale Wunderland China.
Es ist kein Zufall, dass so viele transnationale Unternehmen große Teile ihrer
Produktionsketten in Festland-China unterhalten. Der Entwurf des rechten
Republikaners Marco Rubio, der in der US Abgeordnetenkammer durchgekommen ist,
zeigt nur die Sorge um genau diesen Status Hongkongs und die zusätzliche
Möglichkeit für Sanktionen sind ein nützliches Werkzeug im Handelskonflikt mit
China, der nicht durch humanitäre Sorgen sondern Profitinteressen motiviert
ist.
Aber das
Illusionen in die positive Rolle der USA oder Großbritanniens in der Bewegung
verbreitet sind (wenn auch nicht so verbreitet wie die Medien es darstellen),
ist kein Zeichen des „imperialistischen“ Charakters dieser, sondern viel eher für
die verächtliche Rolle, die die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Elemente in
der Bewegung spielen. Sie sähen diese Ideen und Illusionen, die nur zu einer
totalen Niederlage der Bewegung führen können, weil sie selbst Angst haben vor
der unabhängigen und radikalen Kraft, die große Teile der kantonesischen
Arbeiterklasse geworden sind. Sie haben Angst vor einem Programm, das
konsequent zu Ende kämpfen würde; einem Programm, das die Organisation eines
neuen Generalstreiks beinhalten würde, das die fünf Forderungen der Bewegung
mit sozialen Forderungen wie bezahlbares Wohnen und besseren Arbeitsbedingungen
verbinden würde, das die komplette Enteignung aller Tycoons, Oligarchen und
chinesischen Marionetten genauso wie die des internationalen Finanzkapitals durchführen
und diese unter öffentliche Verwaltung stellen würde. Sie haben Angst vor einem
Programm, das über die Organisation von kollektiver Selbstverteidigung und
Bewaffnung gegen die brutalen Häscher des chinesischen Regimes redet; einem
Programm, das zu einem gemeinsamen Kampf mit den Arbeiterklassen und
Unterdrückten von Taiwan, Xinjiang, Tibet und Festland-China aufruft; einem
Programm, das wirklich fähig ist, die si doi gak ming 時代革命 („Revolution unserer Zeit“, beliebter Slogan
der Massenbewegung) durchzuführen. Sie haben Angst, denn sie wissen, dass ein
solches Programm erfolgreich sein kann. Um dieses aufzubauen brauchen wir aber
eine Organisation, die sich von allen anderen in Hongkong grundlegend
unterscheidet, die die Bewegung vorwärtsführen und geduldig aber bestimmt gegen
alle Illusionen und Verräter kämpfen kann. Eine wahre revolutionäre und
sozialistische Partei der Arbeiterklasse, eine Revolutionäre Linke.