Finanzkrise und Überproduktion - Teil II

Juan Ignacio Ramos, Generalsekretär von Izquierda Revolucionaria 
(Schwestersektion von Offensiv im spanischen Staat)
erschienen auf Spanisch am 07. März 2008.

Unter dem Vorwand, Marx hätte keine Abhandlung ausschließlich über kapitalistische Krisen hinterlassen – obwohl sein gesamtes Werk von der Analyse ihrer Ursachen, Erscheinungsfolgen und Formen bestimmt wird, insbesondere Band II und III des Kapitals, – versuchen einige selbsternannte „Marxisten“ und „Sozialisten“, vor allem aus dem akademischen Milieu, sich dieser Frage auf einseitige und verfälschte Art zu nähern und versuchen den einen oder anderen Faktor als Hauptkatalysator hervorzuheben.

Unterkonsumtion und die Tendenz zum allgemeinen Fall der Profitrate

Dies ist der Fall bei einer beachtlichen Anzahl von Ökonomen, welche sich zur reformistischen Linken zählen und die die Hauptursache für kapitalistische Krisen in der Unterkonsumtion der Bevölkerung sehen, d.h. in der mangelnden Konsumnachfrage. Lenin konterte diesem einseitigen Ansatz in seinen frühen Schriften, als er gegen russische Populisten polemisierte. Wir zitieren an dieser Stelle eine aufschlussreichen Absatz, der etwas Licht auf diese Frage wirft: „[...] Aus Sismondis Auffassung, die Akkumulation (das Wachstum der Produktion überhaupt) werde durch die Konsumtion bestimmt, und aus der unrichtigen Erklärung der Realisation des gesellschaftlichen Gesamtprodukts (das auf den Anteil der Arbeiter und den Anteil der Kapitalisten am Einkommen reduziert wird) ergab sich natürlich und unvermeidlich die Lehre, dass die Krisen aus der Diskrepanz zwischen Produktion und Konsumtion zu erklären seien. [...]Die wissenschaftliche Analyse der Akkumulation in der kapitalistischen Gesellschaft und der Realisation des Produkts untergrab alle Grundlagen dieser Theorie und  wies außerdem nach, dass gerade in Zeiten, die den Krisen vorausgehen,  die Konsumtion der Arbeiter steigt, dass es Unterkonsumtion (die angeblich die Krisen erklärt) bei den verschiedensten Wirtschaftsordnungen gegeben hat, während die Krisen das Unterscheidungsmerkmal nur eines Systems sind, des kapitalistischen. Diese Theorie erklärt die Krisen aus einem anderen Widersprach, nämlich dem Widersprach zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion (die durch den Kapitalismus vergesellschaftet worden ist) und der privaten, individuellen Aneignungsweise. [...] Die beiden Krisentheorien, von denen wir sprechen, erklären die Krisen völlig verschieden. Die erste Theorie erklärt sie aus dem Widerspruch zwischen der Produktion und der Konsumtion der Arbeiterklasse, die zweite aus dem Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem privaten Charakter der Aneignung. Die erste sieht also die Wurzel der Erscheinung außerhalb der Produktion [...]; die zweite sieht sie gerade in den Produktionsbedingungen. [...] Es fragt sich aber: Bestreitet die zweite Theorie etwa die Tatsache eines Widerspruchs zwischen Produktion und Konsumtion, die Tatsache der Unterkonsumtion? Selbstverständlich nicht. Sie erkennt diese Tatsache durchaus an, weist ihr aber als einer Tatsache, die sich nur auf eine Abteilung der gesamten kapitalistischen Produktion bezieht, den ihr zukommenden, untergeordneten Platz an.“[1]

Welche Folgen die Anwendung der Unterkonsumtionstheorie in all ihren Spielarten in der politischen Praxis hat, ist bekannt. Für viele linke Reformer und insbesondere für Neukeynesianer der sozialdemokratischen Schule ist der Weg zur Vermeidung von Krisen und zur Wiederbelebung des Akkumulationsprozesses eine Steigerung der Nachfrage, entweder durch eine Erhöhung der direkten Löhne oder durch eine Erhöhung der indirekten Löhne – die Ausweitung der Mittel für Arbeitslosengeld, Sozialausgaben und im öffentlichen Dienst. Bei diesem Vorgehen ist die Rolle staatlicher Eingriffe zentral. Da jedoch die Rezession der 1970er Jahre für Aufräumarbeiten gesorgt hat, kann diese Art von Nachfrage weder die Abwärtsdynamik des Zyklus korrigieren noch die Kapitalisten daran hindern, ihre Investitionen einzustellen und letztlich über die Produktion zu entscheiden.

Die Debatte zwischen bürgerlichen Ökonomen und Marxisten ist seit Jahrzehnten polarisiert, wenn es darum geht, zu erklären, woher Überschuss kommt, oder besser gesagt, wie Profit geschaffen wird. Der Knackpunkt ist, dass der Eigentümer des Kapitals auf dem Markt eine Ware finden muss, deren Gebrauchswert die Eigenschaft besitzt, eine Quelle der Wertschöpfung zu sein, eine Ware, die, wenn sie konsumiert wird, Wert schafft: diese Ware ist die Arbeitskraft der Menschen. Der Kapitalist kauft mit seinem Kapital die Arbeitskraft des Arbeiters; er kauft ihren Tauschwert für einen bestimmten Geldbetrag, d.h. für die Kosten des Unterhalts und der Ausbildung des Arbeiters und seiner Familie, und im Gegenzug eignet er sich ihren Gebrauchswert an. Der Arbeiter schafft in einem Teil der Gesamtzeit seiner Arbeit den notwendigen Wert, mit dem der Kapitalist ihn bezahlt, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Aber in der verbleibenden Zeit schafft er ein vom Kapitalisten nicht bezahltes Überschussprodukt, nämlich den den Mehrwert.[2]

Konstantes Kapital, variables Kapital

Das vom Kapitalisten im Produktionsprozess eingesetzte Kapital wird eingeteilt in konstantes Kapital, das sich aus Produktionsmitteln, Rohstoffen, Maschinen usw. zusammensetzt (dies wird als konstant bezeichnet, weil es seinen Wert im Produktionsprozess nicht verändert, sondern der produzierten Ware seinen Wert hinzufügt; es ist tote Arbeit); und variables Kapital, der Teil des Kapitals, der für den Kauf von Arbeitskraft ausgegeben wird und der, wenn er verbraucht wird, Wert schafft. Die Dynamik der Massenproduktion bedeutet, dass jeder Kapitalist die neuesten Fortschritte in Maschinen und Technologie auf den Produktionsprozess anwenden muss. Auf diese Weise werden die Investitionen in das Anlagekapital, d.h. in die Produktionsmittel und -instrumente, erhöht. Kurzfristig ermöglicht dies die Produktion von mehr Gütern, aber es senkt die Profitrate, wenn die organische Zusammensetzung des Kapitals zunimmt.[3]

Die Kapitalisten leiden unter der Zunahme der organischen Zusammensetzung des Kapitals, kämpfen aber mit voller Kraft, die sinkende Tendenz ihrer Profitrate auszugleichen. Normalerweise schließt der Abwärtstrend der Rate eine Erhöhung der Gewinnmasse nicht aus. Ein Kapitalist wird nie aufhören zu investieren, auch wenn sein Gewinn „nur“ 4% statt 9% des globalen Kapitals ausmachen. Wie Marx im Kapital[4] erklärt, ist das Gesetz vom Fall der Profitrate nicht absolut, sondern zeigt eine Tendenz, die durch eine Reihe von Maßnahmen gebremst werden kann:

1.- den Grad der Ausbeutung der Arbeit zu erhöhen und die Löhne unter ihren Wert zu senken. Die Aneignung von Mehrwert wird vor allem durch die Verlängerung des Arbeitstages und die Intensivierung der Ausbeutung der Arbeit (Produktion von absolutem und relativem Mehrwert) erhöht. Im Boom des letzten Jahrzehnts hat dieser Faktor entscheidend dazu beigetragen, der Tendenz zu einer sinkenden Profitrate entgegenzuwirken. Die Arbeitszeit wurde in vielen Ländern der Welt ausgeweitet und der Produktionsrythmus beschleunigt. Andererseits ist die Bezahlung der Arbeitskräfte weltweit deutlich zurückgegangen. Durch Eingliederung von Hunderten Millionen Menschen aus der Sowjetunion, den osteuropäischen Ländern und China in den kapitalistischen Markt, hat sich eine Verbilligung der Arbeitskraft vollzogen; einen ähnlichen Effekt haben die starken Migrationsbewegungen in entwickelte kapitalistische Länder.

2.- Sinkender Wert der Elemente des konstanten Kapitals. Die steigende Produktivität der Arbeit, die generell die Menge des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapital erhöht, verringert den Wert der Bestandteile des konstanten Kapitals (Maschinen, Rohstoffe,...). Das verhindert, dass der Wert des konstanten Kapitals, obwohl es in seiner Masse ständig steigt, im gleichen Verhältnis zunimmt. Dieses Phänomen trat objektiv im Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg auf, und zwar durch eine Senkung der Produktionskosten der Produktionsmittel, dank der exponentiellen Steigerung der Arbeitsproduktivität und der niedrigeren Rohstoffkosten. Ein ähnliches Phänomen gab es in den 1990er Jahren auch in den USA.

3.- Schneller Kapitalumschlag: die jährliche Gewinnmasse ist von der Anzahl der Produktionszyklen abhängig, die ein identisches, zirkulierendes Geldkapital erzielen kann. Diese Rotation hängt sowohl von der Geschwindigkeit des Transports und des Verkaufs von Waren als auch vom Produktionstempo ab.

4.- Außenhandel. Der Fortschritt des Welthandels macht sowohl die Güter des konstanten Kapitals, als auch die Konsumgüter billiger. Das führt dazu, dass sich der Anteil des Gewinns erhöht, da der Anteil des Mehrwerts erhöht und der Wert des konstanten Kapitals verringert wird. Der Welthandel schafft es, den Umfang der Produktion auszuweiten, so dass er die Akkumulation beschleunigt.

Um das Problem der ständigen Krisen aus marxistischer und damit aus dialektischer Sicht zu betrachten, ist es nötig, jedwede Art von mechanischer Herangehensweise an die Analyse der Krisenursachen zurückzuweisen. Lenin wies im oben zitierten Text darauf hin, dass die marxistische Theorie der kapitalistischen Krise den Unterkonsum der Massen nicht leugnet, eine Tatsache, die offensichtlich ist und auf die Marx selbst bei zahlreichen Gelegenheiten hingewiesen hat. Gleichermaßen ist es unzureichend, den Ursprung der Krise nur in der sinkenden Tendenz der Profitrate zu sehen, d.h. in einer unzureichenden Produktion von Mehrwert. Diese Tendenz ist in jeder der kapitalistischen Krisen des 20. Jahrhunderts (der Crash von 1929, die Rezession von 1973/74,...) vorhanden, aber vor allem zeigt sich das Gesetz dieser sinkender Tendenz in der anarchistischen Form, welche der Industriezyklus bei globaler Betrachtung hat.

Kapitalistische Akkumulation bedeutet die Umwandlung des im Wert jedes produzierten Produkts enthaltenen Mehrwerts in Geld, das als Kapital für die Produktion verwendet werden kann. In dem kapitalistischen System der Warenproduktion par excellence, ist die Umwandlung des Produkts in Geld, der Verkauf, die conditio sine qua non.[5] Die Krise ist das Ergebnis der Unmöglichkeit, zu verkaufen, und wenn das geschieht, kommt es zur Vernichtung von Kapital.[6]



[1] Wladimir Iljitsch Lenin: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik, in: Lenin-Werke (LW) Bd. 2, Berlin 1961, S. 160 – 161.
[2] Kurz gesagt: der Mehrwert ist die Differenz zwischen dem von der Arbeitskraft geschaffenem Wert und dem, was diese Arbeitskraft kostet. Sobald die Arbeitskraft gekauft wurde, hat der Inhaber des Kapitals das Recht, sie für die im Vertrag vereinbarte Zeit zu gebrauchen. Das Gehalt ist also der Preis der Arbeitskraft auf dem Markt, der monetäre Ausdruck ihres Wertes.
[3] Marx entdeckte dieses Gesetz und bezeichnete es als den „tendenziellen Fall der Profitrate“:
„Diese fortschreitende relative Abnahme des variablen Kapitals im Verhältnis zum konstanten und daher zum Gesamtkapital ist identisch mit der fortschreitend höhern organischen Zusammensetzung des gesellschaftlichen Kapitals in seinem Durchschnitt. Es ist ebenso nur ein andrer Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit, die sich grade darin zeigt, dass vermittelst der wachsenden Anwendung von Maschinerie und fixem Kapital überhaupt mehr Roh- und Hilfsstoffe von derselben Anzahl Arbeiter in derselben Zeit, d.h. mit weniger Arbeit in Produkte verwandelt werden. Es entspricht diesem wachsenden Wertumfang des konstanten Kapitals[...]eine wachsende Verwohlfeilerung des Produkts. [...] Diese erzeugt mit der fortschreitenden relativen Abnahme des variablen Kapitals gegen das konstante eine steigend höhere organische Zusammensetzung des Gesamtkapitals, deren unmittelbare Folge ist, dass die Rate des Mehrwerts bei gleichbleibendem und selbst bei steigendem Exploitationsgrad der Arbeit sich in einer beständig sinkenden allgemeinen Profitrate ausdrückt. [...] Die progressive Tendenz der allgemeinen Profitrate zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlicher Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit.“ (Karl Marx: Das Kapital. Band 3, Dritter Abschnitt, Dreizehntes Kapitel, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 25, Berlin 1964, S. 222 – 223).
[4] Ebd.
[5] Notwendige Voraussetzung, Anm.d.Ü.
[6] „Insofern der Reproduktionsprozess stockt, der Arbeitsprozess beschränkt wird oder stellenweise ganz stillgesetzt“, so Marx, „wird wirkliches Kapital vernichtet. Die Maschinerie, die nicht gebraucht wird, ist nicht Kapital. Die Arbeit, die nicht exploitiert wird, ist soviel [wie] verlorne Produktion. Rohmaterial, das unbenutzt daliegt, ist kein Kapital. Gebäulichkeiten, die entweder unbenutzt bleiben (ebenso wie neugebaute Maschinerie) oder unvollendet bleiben, Waren, die verfaulen im Warenlager, alles dies ist Zerstörung von Kapital. Alles das beschränkt sich auf Stockung des Reproduktionsprozesses und darauf, dass die vorhandnen Produktionsbedingungen nicht wirklich als Produktionsbedingungen wirken, in Wirksamkeit gesetzt werden. Ihr Gebrauchswert und ihr Tauschwert geht dabei zum Teufel.
Zweitens aber meint Zerstörung des Kapitals durch Krisen Depreziation von Wertmassen, die sie hindert, später wieder ihren Reproduktionsprozess als Kapital auf derselben Stufenleiter zu erneuern. Es ist der ruinierende Fall der Warenpreise. Damit werden keine Gebrauchswerte zerstört. Was der eine verliert, gewinnt der andre. Als Kapitalien wirkende Wertmassen werden verhindert, in derselben Hand sich als Kapital zu erneuern. Die alten Kapitalisten machen bankrutt.“ (Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. Siebzehntes Kapitel, [6. Problem der Krisen (Einleitende Bemerkungen). Zerstörung von Kapital durch Krisen], in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 26.2, Berlin 1967, S. 496)