Fyn Hansow, Offensiv Hamburg
Dass große Filmproduktionen meistens die Vorstellungen von
Teilen der herrschenden Klasse widerspiegeln, ist nichts neues. Doch der
erstmalig am 15. April ausgestrahlte Spielfilm „Die Getriebenen“, eine
Produktion des öffentlich-rechtlichen ARD, treibt diese Art der Propaganda
dermaßen auf die Spitze, dass es zum Teil schwer zu glauben ist, dass es sich
nicht um Satire handelt. Der Film verkündet, die Geschehnisse im Kanzleramt im
Sommer 2015 während der sogenannten Flüchtlingskrise realitätsnah nachstellen
zu wollen. Dabei ist er vor allem eines: Geschichtsfälschung par excellence,
die von der bürgerlichen Presse beinahe kritiklos aufgenommen wird. Vor 3,98
Millionen Zuschauern (so hoch war die Einschaltquote während der
Erstausstrahlung) wird Angela Merkel als einfühlsame Heldin einer
humanistischen Politik dargestellt, die nicht perfekt sein mag, aber letztlich
über alle Zweifel erhaben ist.
Die wahren Hintergründe der Flüchtlingskrise 2015
Dreh- und Angelpunkt des Films ist die „Wir schaffen
das“-Politik von Merkel, die sich ab der Grenzschließung Ungarns gegenüber den
Flüchtlingsströmen von der Balkanroute durchgesetzt hat und die eine zeitweise
Öffnung der deutschen Grenzen bedeutete. Doch anders als der Film es darstellt,
war diese Politik nicht Ergebnis der Entscheidungen der von den tragischen
Ereignissen „getriebenen“ Politiker, sondern von klaren wirtschaftlichen
Interessen und Abwägungen.
Die wirtschaftliche Produktion der Bundesrepublik und die
zunehmend sinkende Geburtenrate in Verbindung mit dem erhöhten Konkurrenzdruck
auf dem internationalen Markt, der auf Deutschland als „global player“
besonders stark wirkt, haben das Bedürfnis des Kapitals nach eine größerem
Zustrom neuer Arbeitskräfte verstärkt.
Wo in den 90er und 2000er Jahren die Demontage der
ehemaligen DDR-Betriebe und die innereuropäische Migration ausgereicht haben,
witterte ein Teil der herrschende Klasse (vertreten von Angela Merkel) im
letzten Jahrzehnt die Chance, die neuen Migrationsbewegung zu nutzen.
Gleichzeitig war sich ein anderer Teil der herrschenden
Klasse, vor allem in den Führungspositionen der Union, bewusst über die Gefahr
einer solchen Politik der zeitweiligen „offenen Grenzen“, nachdem sie jahrelang
rassistische Vorurteile geschürt hatten. Sie hat neuen Parteien wie der AfD in
die Hände gespielt und die bröckelnde Wählerbasis der CDU und CSU zersetzt.
Die „Mutti“ und die Flüchtlinge
So war die Politik in diesen Monaten ein Lavieren zwischen
diesen verschiedenen Polen. Und eins war sie dabei immer: im Profitinteresse
der Kapitalisten, weit davon entfernt „menschlich“ zu sein.
Der Film tut so, als wären die Bilder der Katastrophen an
den europäischen Grenzen 2015 neu gewesen; als hätte es nicht schon Jahre
vorher Frontex und Flüchtlingsboote gegeben; als hätte Merkel aus purer
Menschlichkeit im Alleingang die ungarischen Rassisten besiegt. Und das am 15.
April 2020, nur Wochen nachdem erneut die schrecklichen Bilder von den
EU-Grenzen die Runde gemacht haben und in Lagern wie Moria abertausende
Menschen wie Tiere eingepfercht sind. Weit scheint es nicht her zu sein mit
„Muttis“ Humanismus.
Stattdessen zeigt der Film in ermüdender Länge eine
Nachstellung des tatsächlich stattgefundenen Fernsehauftritts bei „Gut leben in
Deutschland“, wo Merkel spontan ein Flüchtlingsmädchen mit den geistreichen
Worten „Ich möchte sie auch mal streicheln“ tröstet (der Aufenthaltsstatus der
Angehörigen dieses Mädchens ist im Mai 2019 übrigens abgelaufen). Was für eine
widerliche Heuchelei.
Eine Bilanz der Ära Merkel
Doch es wäre falsch, die Darstellung von Merkel in diesem
Film nur anhand der Flüchtlingsfrage zu beurteilen. In einer der
Schlüsselszenen sitzt sie nach den rassistischen Demonstrationen in Heidenau im
Kanzleramt und fragt sich selber: „Woher kommt all der Hass? Uns geht es doch
gut.“ Es ist schwer, ein anderes Beispiel für eine ähnlich dumm-dreiste und
plumpe Lüge in einem Propagandafilm zu finden.
In den 15 Jahren, die Merkel Deutschland bisher als
Bundeskanzlerin regiert hat, ist sie die Totengräberin auch noch der letzten
(wenn auch schon beschränkten) sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit
gewesen. Unter ihrer Regierung wurden die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010,
die tagtäglich Tausende Menschen (nicht nur die Familie des Mädchens, dass sie so
liebevoll gestreichelt hat) der entwürdigenden Schikane aussetzt, umgesetzt;
die Renten hart arbeitender Menschen wurden so weit herabgedrückt, dass heute
im Müll wühlende oder unter Mindestlohn arbeitende Rentner keine Ausnahme mehr
sind; Zeitarbeit und befristete Arbeitsverträge, die die erkämpften
Arbeitsrechte untergraben, sind für die meisten Beschäftigten alltäglich
geworden; die Krankenhäuser sind so kaputt gespart, dass schon im Normalfall
kaum die Versorgung aufrecht erhalten werden kann, geschweige denn während
Corona; Von NRW bis Sachsen stehen große Teile der Arbeiterjungend, egal mit
welcher Herkunft, vor Hoffnungslosigkeit und Niedriglohnarbeit. Und das alles,
während die Politiker dicke Renditen kassieren, die Kapitalisten Rekordprofite
erzielen und Verbrecher wie die VW-Geschäftsführung gedeckt werden! Natürlich
ist an diesen politischen Verbrechen nicht nur Merkel direkt Schuld; die
anderen Politiker, von Jens Spahn bis Wolfgang Schäuble und ihre Komplizen in
der SPD-Führung, verdienen genauso unseren Hass.
Das ein solcher Film gerade zu der jetzigen Zeit
herauskommt, ist kein Zufall. Die Ära Merkel neigt sich, spätestens mit den
Bundestagswahlen 2021, ihrem Ende zu. Gerade in der jetzigen Krise braucht die
herrschende Klasse eine andere Art Führungsfigur an der Spitze. Eine, die
lautstärker und offensiver die „Nationale Einheit“ heraufbeschwören und uns
dabei den Krieg ansagen kann. Doch an der Politik im Interesse der Reichen wird
sich nicht viel ändern. Der Film ist dabei der Versuch, die Person Angela
Merkel im Nachhinein im wahrsten Sinne heiligzusprechen. Selten hat es eine
ähnliche Kombination an politischer Heuchelei, schriftstellerischer und
filmischer Unfähigkeit, schauspielerischem Versagen und Fremdscham gegeben. Es
ist schwer, bis zum Abspann durchzuhalten.
Doch es „lohnt“ sich, denn es wird noch einmal deutlich, was
für eine Politik wir brauchen: eine des offensiven Kampfes der Arbeiterklasse
gegen die Politik für Banken und Konzerne, gegen jede rassistische Spaltung und
für eine Welt, in der niemand mehr aus Verzweiflung im Mittelmeer ertrinken
muss.