Der Kampf um Sozialismus ist die einzige Alternative für die Arbeiterklasse!
von Victor Taibo, Exekutivkomitee von Izquierda Revolucionaria (Spanischer Staat), Veröffentlicht auf Spanisch am 20.08.2019
Die jüngsten Ereignisse um den Brexit haben
Großbritannien in eine der schwersten politischen und institutionellen Krisen seiner Geschichte gebracht.
Der Tory-Premierminister Boris Johnson, der mit Unterstützung der Königin
eingesetzt wurde, hat sich bereit erklärt, das Parlament vom 10. bis zum 14.
Oktober auszusetzen. So will er verhindern, dass der wacklige Verhandlungsprozess,
der vor dem 31. Oktober – der Frist für eine Einigung mit der EU – stattfindet,
beeinträchtigt und hinterfragt wird.
Diese Maßnahme spiegelt die Degradierung des
Parlamentarismus nicht nur in Großbritannien, sondern in zahlreichen Ländern,
in denen die bürgerliche Demokratie fest etabliert schien, wider. Es ist ein
autoritärer und bonapartistischer Schritt, der zeigt, wie nah ein Teil der
britischen herrschenden Klasse den
Methoden und dem Programm von Trump und anderen rechtspopulistischen Regierungsoberhäuptern
in Europa und Lateinamerika sind.
Eine Woche später hat Johnson seine beschränkte
absolute Mehrheit im Parlament aber schon verloren. Mit den Fürstimmen von 27
Parlamentsabgeordneten der Tories wurde ein Gesetz erlassen, das die Regierung
zwingt, bei der EU eine Verlängerung der Verhandlungen zu beantragen, sollte es
keine Einigung geben oder das Parlament einem No-Deal-Brexit nicht zustimmen.
Johnson hat das beantwortet, indem er die 27
Querulanten aus der konservativen Parlaments-
gruppe ausschloss und so die historische Krise der
Partei weiter vertiefte. In dieser unvorhersehbaren Situation steigt die
Wahrscheinlichkeit von Neuwahlen, um einen Ausweg aus dieser Krise aufzuzeigen
und die öffentliche Unzufriedenheit im Zaum zu halten. Aber auch ein solcher
„Ausweg“ bringt Schwierigkeiten mit sich jetzt wo Corbyn sich gegen direkte
Wahlen ausgesprochen hat, bis das Parlament ein Gesetz bestätigt, das einen
No-Deal-Brexit verhindern soll.
Die Tiefe der Brexit-Krise steht in Zusammenhang
mit der schweren sozialen Krise, die Großbritannien seit Jahr- zehnten erlebt.
Die Lebensrealität der Arbeiterklasse und Jugend wurde von Verschlechterungen
der Lebensbedingungen geprägt, von zunehmender Ungleichheit und sich anhaltend
verschlechternden Arbeitsbedingungen. Das ist eine Folge der ständigen sozialen
Kürzungen besonders nach der Rückkehr der Tories in die Regierung 2010. Nach
einer Studie der Joseph Rowntree Stiftung aus dem Jahr 2017 leben 8 Millionen
Erwachsene, 4 Millionen Kinder und 1,9 Millionen Rentner in Armut – 20% der
Bevölkerung – während 3,7 Millionen Arbeiter nicht genug verdienen, um ihre
Grundbedürfnisse zu decken. Gleichzeitig haben 2018 diejenigen Großkonzerne,
die an der britischen Börse notiert sind, Rekordprofite von 218.000 Millionen
Pfund gemacht und so den bisherigen Rekord des Jahres 2011 überholt.
Die
unvorhersehbaren Folgen eines No-Deal-Brexit
Die Perspektive eines No-Deal-Brexit wird
wahrscheinlicher und erhöht die Spaltung zwischen der britischen und der
europäischen herrschenden Klasse. Im Kontext des Handelskrieges zwischen den
USA und China und einer möglichen wirtschaftlichen Rezession würde dieses
Ergebnis einen verheerenden Schlag für die EU bedeuten – deren Zukunft
ebenfalls mit einem Fragezeichen versehen ist – und es wird die bestehenden
Probleme nicht lösen.
Großbritannien hat im letzten Quartal einen
Rückgang seines BIP um 0,2% erlitten, und die Aussichten für das nächste
Quartal könnten ebenso negativ sein. Wie es David Blanchflower, Mitglied des
Komitees für Monitärpolitik an der Bank of England beschreibt, könnte
Großbritanniens Ausstieg aus der EU „nicht zu einem schlechteren Zeitpunkt
stattfinden“.
Ein Bericht der Johnson-Regierung selbst hat
ergeben, dass ein No-Deal-Brexit einen Zusammenbruch der Infrastruktur bedeuten
würde, mit kilometerlangen Schlangen von Lastwagen, die an Grenzübergängen
festsitzen. Es gäbe einen Mangel an Medikamenten, da drei Viertel davon aus
Europa importiert werden; an Lebensmitteln, da Großbritannien 60% seiner
Lebensmittel hauptsächlich aus der EU importiert, und Kraftstoff. Dies wird
zusammen mit der beschleunigten Abwertung des Pfunds einen schwindelerregenden
Preisanstieg und eine Situation einer schweren Rezession oder sogar einer
Wirtschaftsdepression mit einem Rückgang des BIP zwischen 5% und 8% in den
kommenden Jahren bedeuten.
Das Büro für Haushaltsangelegenheiten hat
argumentiert, dass ein No-Deal-Brexit ein Loch von 30.000 Millionen Pfund in
die öffentlichen Gelder reißen würde. Andererseits könnte eine Rückkehr zu
einer harten Grenzpolitik an der Grenze zu Irland – was einer der zentralen Uneinigkeiten
in den Verhandlungen mit der EU ist – zu einer Verschärfung des sektiererischen
Konflikts zwischen den protestantischen und katholischen Bevölkerungsgruppen
führen. Und dem Report zufolge ist das nicht das schlechteste Szenario, sondern
das wahrscheinlichste und realistischste.
Spaltungen
innerhalb der herrschenden Klasse: Mit den USA oder mit Europa?
Vor dem Hintergrund eines wachsenden
interimperialistischen Konflikts, vor allem zwischen China und den USA in ihrem
Kampf um die Weltherrschaft, versucht ein großer Teil der britischen
Bourgeoisie, vor allem aus dem Bereich des Finanzkapitals und der
Exportindustrie, in der EU zu bleiben, wenn auch unter anderen Bedingungen.
Andere Teile versuchen jedoch, sich den USA anzunähern und vertrauen auf die
Möglichkeiten, die ein Freihandelsabkommen mit der amerikanischen Bourgeoisie
bietet, im Bewusstsein der Schwächen der EU und ihrer untergeordneten Rolle in
allen Bereichen der internationalen Beziehungen.
Die gegenwärtige Krise Großbritanniens ist Teil der
globalen Dynamik der imperialistischen Konfrontations- und
Überproduktionskrise. Europa als wirtschaftlicher und politischer Block ist
zunehmend gespalten und steht vor Schwie-
rigkeiten was die Vorherrschaft Deutschlands angeht,
das auch mit den Auswirkungen der Rezession in seiner Industrie und dem
Rückgang seiner Exporte zu kämpfen hat.
Natürlich wird auch die amerikanische Bourgeoisie von
einem möglichen Abkommen mit Großbritannien profitieren und die Vasallenrolle
Großbritanniens ausbauen wollen. Wie verschiedene interne Dokumente der
Trump-Administration ergeben haben, würde dieses Freihandelsabkommen eine
weitere Öffnung des britischen Marktes für das US-Kapital bedeuten, was im
Lebensmittelsektor zu erheblichen Einschränkungen bei der Ausfuhr in die EU
führen würde. Andererseits wären viele öffentliche Dienstleistungen wie der NHS
ernsthaft gefährdet, da große amerikanische Unternehmen zusammen mit den
britischen Unternehmen die eigentlichen Privatisierungspläne beschleunigen und
die schwere soziale Krise des Landes verschärfen würden.
Paradoxerweise würde Großbritannien die EU verlassen –
anscheinend, um “seine Souveränität” von der EU zu erlangen – und praktisch zur
US-amerikanischen Kolonie werden. Etwas, das einem Sektor des britischen
Kapitals akzeptabel erscheint, auch wenn sie nach außen auf nationalistische
Demagogie zurückgreifen.
Nein zur
nationalen Einheit! Ja zum Klassenkampf gegen die Sparpolitik und für ein
sozialistisches Europa!
In solchen entscheidenden Momenten hat sich Labour-Vorsitzender
Jeremy Corbyn, statt eine Massenmobilisierung und den Generalstreik zum Sturz
der Tory-Regierung als wesentlichen Schritt hin zu einer linken Regierung, die
mit dem Spardiktat
bricht, zu fordern, als Garant für kapitalistische und institutionelle
Stabilität angeboten.
Die Blairites im rechten Labour-Flügel haben eine
Regierung der nationalen Einheit vorgeschlagen. Und das Schlimmste ist, dass
Corbyn diese Strategie in seinem offenen Brief (1) an alle Tory-Abgeordneten,
die sich dem Brexit widersetzen, an Grüne und die Liberale vorschlägt,
zusammenzuarbeiten und eine Übergangsregierung zu bilden um Neuwahlen
auszurufen und einen Deal-Brexit oder ein neues Referendum zu erreichen. Das ist eine völlig
falsche Politik. Am auffälligsten ist, dass die britische herrschende Klasse
trotz dieser großzügigen Angebote Corbyn immer noch nicht vertraut: Sie
befürchtet, dass seine Wahl zum Premierminister den Kampf der Arbeiterklasse
und Jugend in antikapitalistische Richtungen fördern wird.
Corbyn muss mit dieser Position der nationalen
Einheit mit den Tories, den Liberalen und dem prokapitalistischen Blairite-Flügel brechen. Dazu ist es notwendig,
dass er sich auf die Politik stützt, die ihn zum Vorsitzenden von Labour
gemacht hat: den Kampf gegen Sparmaßnahmen und Sozialabbau, die Verteidigung
radikaler sozialer Reformen zugunsten der Arbeiterklasse oder die Verstaatlichung
wichtiger Wirtschaftszweige wie der Eisenbahn, des Energiesektors oder der Wasserversorger.
Der Brexit hat die Grenzen des
Wirtschaftsnationalismus populistischer und rechter reaktionärer politischer
Kräfte sowie der traditionellen Sozialdemokratie und den Teilen der neuen
reformistischen Linken wie Corbyn, Tsipras oder Pablo Iglesias aufgezeigt, die
keinen anderen Ausweg sehen, als in der kapitalistischen EU zu bleiben und sie
demokratisch zu „reformieren“.
Im ersten Fall ist die wirtschaftliche
Unabhängigkeit völlig unhaltbar und einfach ein Irrglaube. Ein kapitalistischer
Brexit, der die von großen Monopolen in einer Zeit der globalen Rezession
auferlegte Ordnung respektiert, wird mehr Entlassungen, mehr Ausbeutung,
Arbeitsplatzunsicherheit und den Verlust von Rechten bedeuten. Aber die Option,
in einer EU zu bleiben, die ein Club im Dienste der kapitalistischen
multinationalen Konzerne ist und Tag für Tag Gesetze gegen die Arbeiterklasse
erlässt, ist überhaupt keine „fortschrittliche” Position.
Weite Teile der britischen Arbeiterklasse stimmten für
den Brexit, um dem europäischen Establishment und seiner unsozialen Agenda
einen Schlag zu versetzen. Es war ein echtes politisches Erdbeben, das von
Corbyn und seinen Mitstreitern in Labour und den Gewerkschaften genutzt werden
sollte, um eine politische Offensive zu starten und die Tories mit
Massenmobilisierungen zu besiegen.
Aber die „linke” Bürokratie von Labour und
Gewerkschaften hat trotz der tiefen Spaltung der Tories, die sich in eine beispiellose
Krise gestürzt sehen, keinen Kampf aufgenommen.
Die Lehren aus diesen Ereignissen sind klar. Die
einzige Alternative ist eine breite Mobilisierung der Arbeiterklasse und Jugend
zur Verteidigung eines antikapitalistischen Programms zur Lösung der schwerwiegenden
sozialen Probleme von Millionen britischer Arbeiter. Um dies zu erreichen,
müssen Corbyn, die Führer des TUC und der großen britischen Gewerkschaften zu
massiven Mobilisierungen und einem Generalstreik aufrufen, um nicht nur die
reaktionäre Johnson-Regierung, sondern alle Tories und alle kapitalistischen
Parteien, die sich für Sparpolitik einsetzen, zu stürzen und alle Kürzungen und
Konterreformen zurückzunehmen, die von den Konservativen seit 2010 genehmigt
wurden. Die Gewerkschaftsführungen müssen ihre Politik des sozialen Friedens
aufgeben, die in der Realität geholfen haben, die sterbenden konservativen
Regierungen von Theresa May und nun Boris Johnson aufrechtzuerhalten. Nur so
können vorgezogene Wahlen zugunsten der Arbeiterklasse durchgeführt werden, die
mit Johnsons populistischer und chauvinistischer Demagogie brechen.
Eine Massenmobilisierung, die ein sozialistisches
Programm zur Enteignung der großen kapitalistischen Monopole und zur Verstaatlichung des Bankensystems
unter demokratischer Kontrolle der Arbeiter vorschlagen würde, ist der einzig
wirksame Weg, um Armut und wachsende soziale Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit und
Unsicherheit, Rassismus, Mangel an öffentlichem Wohnraum zu beenden und eine
angemessene öffentliche Gesundheit und Bildung für die gesamte Bevölkerung zu
gewährleisten. Es gibt keine Lösung, weder innerhalb noch außerhalb der EU. Der
Brexit zeigt, dass es notwendig ist, den Kampf gegen die kapitalistische EU auf
der Grundlage eines revolutionären Programms zur Errichtung eines
sozialistischen Europas zu führen.
1) Corbyn’s offener Brief: https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/brexit-jeremy-corbyn-letter-in-full-mps-conservative-labour-stop-no-deal-a9081146.html (“As you were
one of 116 Conservative or independent MPs who voted against No Deal that day
and are not on the government frontbench, I am writing to you to offer to work
together, in a collegiate, cross party spirit, to find a practical way to
prevent No Deal.”)