POLEMIK | Massenbewegung in Hongkong

von Fyn Hansow, Offensiv (Hamburg)
Veröffentlicht online das erste Mal am 17.08.2019

Die Massenbewegung gegen das prochinesische Regime von Carrie Lam in Hongkong, ausgelöst durch den Vorschlag eines „Auslieferungsgesetzes“, das die Überbringung Gefangener aus der Sonderverwaltungszone Hongkong nach Festlandchina ermöglicht hätte und inzwischen vorerst zurück gezogen wurde, ist in den letzten Tagen zunehmend eskaliert.
Am 5. August kam es zu einem Generalstreik, durchgesetzt von unten gegen den Willen der Führungen der größten Gewerkschaften. Am 12. und 13. August wurde der Flughafen teilweise komplett besetzt, nachdem am Sonntag mit Dutzenden Schwerverletzten die Polizeigewalt ein neues Level erreicht hat. Nun spielt die chinesische Regierung öffentlich mit Andeutungen der Möglichkeit eines Militäreinsatzes.
Einige Linke verweigern aus verschiedenen Gründen die Solidarität mit dieser beeindruckenden Massenbewegung und stellen sich stattdessen auf die Seite des chinesischen Regimes. Wir weisen das entschieden zurück. China ist ein imperialistischer Staat, der in seinem Einflussbereich Dutzende Völker und Minderheiten unterdrückt, von Taiwan über Kashmir, Tibet und Xinjiang bis hin zu Hongkong. Dessen Bevölkerung hat aufgrund einer eigenen Geschichte, Schrift und Sprache eine starke, unabhängige nationale Identität entwickelt. Marxisten haben immer das Selbstbestimmungsrecht verschiedener Völker verteidigt. Sich an dieser Frage an die Seite einer der mächtigsten imperialistischen Mächte zu stellen, ist eine Schande für jeden aufrechten Sozialisten und zeugt von Eurozentrismus und Unverständnis gegenüber dem Klassenkampf in China.
Offensichtlich ist die Massenbewegung in Hongkong auch von Widersprüchen und Illusionen, wie in die USA oder der kolonialen Vergangenheit unter Großbritannien geprägt. Aber das ist nicht Ausdruck des „rückschrittlichen“ oder „imperialistischen“ Charakters der Bewegung, sondern Folge des Versagens der politischen Linken in der Unabhängigkeits- und Demokratiebewegung. In den letzten Jahrzehnten sind die (klein)bürgerlichen Führungen der „Pan-Demokraten“ bei rein parlamentarischen Forderungen stehen geblieben, ohne die brennenden sozialen Fragen (exorbitante Mieten, Angriffe auf das Arbeitsrecht etc.) mit den politischen zu verbinden. Die Arbeiterklasse hat hier sogar ausgeprägtes Klassenbewusstsein bewiesen, die Unterstützung für diese Parteien geht immer weiter zurück und gerade die radikalisierte Jugend sucht nach neuen Wegen. In den Gewerkschaften wurde gegen den massiven Widerstand der Führungen die Forderungen nach Streiks und Aktionen von den radikalsten Belegschaften vorangetrieben (wie den U-Bahn-Fahrern und den Mitarbeitern des Flughafens), und das in einer Stadt mit schwachen gewerkschaftlichen Traditionen und hoher Zersplitterung.
Das was fehlt in Hongkong, um den Kampf gegen die chinesische Regierung siegreich zu führen und gleichzeitig die Tycoone und Oligarchen zu vertreiben, ist nicht ein „besseres“, „reines“ Bewusstsein, sondern eine Partei mit einem revolutionären Programm, die kleinbürgerlichen und nationalistischen Vorurteilen in der Arbeiterklasse konsequent den Kampf ansagen und den Internationalismus hochhalten kann. Die Aufgabe von Marxisten ist es, mit aller Kraft für den Aufbau einer solchen Partei zu kämpfen und nicht im schändlichsten Determinismus die „Aussichtslosigkeit“ der Bewegung zu beweinen.
Diese Debatte beinhaltet viele Lehren für die Linke: sie zeigt ein weiteres Mal, wer wirklich in der Tradition des revolutionären Internationalismus steht, während Maoisten und Stalinisten ihre komplette Unfähigkeit beweisen, den Klassenkampf in seiner Dynamik und Dialektik zu begreifen und ein sozialistisches Programm darauf anzuwenden.
Wir haben keine Illusionen darin, dass die großen imperialistischen Mächte mit ihren Thinktanks und Geheimoperationen jede Bewegung und jede Unsicherheit in ihnen feindlichen Nationen ausnutzen wollen, um ihre Propaganda zu streuen und feindliche Regime zu schwächen, wie sie das in Venezuela, in der Ukraine und vielen anderen Ländern der Welt schändlich getan haben. Deswegen verteidigen wir aber nicht wie in einem strategischen Planspiel ihnen feindlich gesinnte Mächte, sondern den Widerstand der internationalen Arbeiterklasse, die die einzige Kraft ist, die ihre Macht brechen kann.
Auch haben wir keine Illusionen in die Losung der nationalen Unabhängigkeit für sich allein. Wir treten ein für Arbeitereinheit – aber die kann es nicht mit, sondern nur gegen Regimes der nationalen Unterdrückung geben. „Nie kann ein Volk, das andere unterdrückt, frei sein“! Deshalb nehmen unsere Genossinnen und Genossen im spanischen Staat keine Äquidistanz ein zur Frage der katalanischen Selbstbestimmung – und suchen gleichzeitig Klasseneinheit auch mit Arbeitern in Katalonien, die selbst keine Vertreter der nationalen Unabhängigkeit sind. Deswegen rufen wir nie nur nach nationaler Unabhängigkeit, sondern immer nach Einheit in den Kämpfen der Arbeiterklasse – für Solidarität mit den Klassenkämpfen von unten in China wie auch in Hongkong und für einen gemeinsamen Kampf.
Auch deswegen ist es uns als Marxisten fremd, unsere Solidarität für Kämpfe der Arbeiterklasse von rein taktischen Erwägungen abhängig zu machen, die die eine imperialistische Macht der anderen gegenüberstellen, sie als das „kleinere Übel“ bezeichnen und in guter alter Feldherrenmanier alle gegen sie gerichteten Bewegungen als reine Versuche zum „regime change“ zum Feindbild machen. Eine solche Haltung ist nicht mehr als ein Ausdruck bürgerlicher Spiesserei und davon, dass der Stalinismus das Vertrauen in die unabhängige und revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse längst aufgegeben hat. Seit der Stalinismus die Perspektive der internationalen Revolution aufgegeben hat, laviert er in seiner Außenpolitik zwischen den Klassen. Äußerungen, wie wir sie in den letzten Tagen von Seiten deutscher Stalinisten zur Frage der Massenbewegung und des Generalstreiks in Hongkong lesen mussten, wie wir sie zur Bewegung im Iran und in Katalonien hören mussten, können nur von einer politischen Kraft kommen, deren Vertreter noch 1978 dem iranischen Schah zum Geburtstag gratuliert und 1979 – zum Zeitpunkt der iranischen Revolution der Arbeiterklasse – die Übereinstimmung ihres Programms mit Ayatollah Khomeini erklärt haben. Mit revolutionärem Leninismus vor seiner Verdrehung und Verschandelung durch die stalinistische Geschichtsfälschung hat das nicht im Entferntesten mehr etwas zu tun.